„Denn sie wir wissen nicht, was passiert …“
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
Freitagmorgen, 6.05 Uhr. Zähneputzen. Stets willkommene Gelegenheit, um vor dem Spiegel kurz über den bevorstehenden Arbeitstag nachzudenken. Heute: Themensuche für die nächste Kolumne. Nach fast sechs Monaten, fünfundzwanzig Texten und weit über einhundert Zitaten kein einfaches Unterfangen. Noch keine zündende Idee, aber wie heißt es doch beim Evangelisten Matthäus im siebten Kapitel so treffend: „…suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.“
Freitagmorgen, 8.10 Uhr. Gang durch die Büros im Rathaus. Rücksprachen stehen an, der ein oder andere Auftrag vor dem Wochenende muss auch noch schnell erteilt werden. Auch hier: Themensuche für die nächste Kolumne. Hat vielleicht jemand einen Vorschlag, ein Stichwort? Eine Idee kommt auf. „Chef, wie wäre es einmal mit einem Geschichten-Schreiben-Spiel? Sie notieren zwei Sätze für den Text auf ein Blatt, knicken den ersten Satz um und reichen den Zettel dann weiter. Der Nächste macht es genauso … und so entsteht ein spannendes Werk.“ Klingt zunächst einmal gut, aber ich habe dann doch gehörige Zweifel, ob dabei etwas Vernünftiges herauskommen kann oder ob es nicht lediglich ein großes Durcheinander gibt. Mir kommt ein bekanntes Sprichwort in den Sinn: „Viele Köche verderben den Brei.“ Manchmal arbeitet es sich eben doch besser alleine.
Freitagvormittag, 10.15 Uhr. Verschnaufpause zwischen zwei Terminen. Immer noch keine zündende Idee. Was tun? Vorgehen nach dem Motto „Wenn man nicht mehr weiter weiß, gründet man einen Arbeitskreis“? Für einige immer öfter ein probates Mittel, um auf alle Fälle Zeit zu gewinnen und vielleicht sogar eine Lösung für die gestellte Aufgabe zu finden. Für andere hingegen lediglich ein Zeichen der Ratlosigkeit. Ich schließe mich – zumindest in vielen Fällen - der letzteren Sichtweise an.
Übrigens: Wenn der „Lockdown“ etwas Gutes gebracht hat, dann war es in meinen Augen der Verzicht auf zahlreiche unnötige Termine, Dienstreisen und Arbeitskreissitzungen. Vieles konnte man schneller und vor allem zielgerichteter am Telefon oder per Email erledigen. Für manche eine neue Erkenntnis. Dabei galt dann nicht „Es ist zwar schon alles gesagt, aber nur noch nicht von jedem …“, sondern „Fasse dich kurz“. Eine Arbeitsweise die Zeit spart, Zeit für das Wesentliche.
Langsam wird es nun aber Zeit, für eine erste Idee, also schnell mal bei Google „Texte Corona“ eingeben. Anders als der ehemalige Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg will ich aber nicht bloß „abkupfern“ und dies Ihnen dann auch noch verheimlichen, sondern bin bloß auf der Suche nach einer Anregung für meine Kolumne, denn alle anderen Herangehensweisen haben ja – Sie konnten es oben nachverfolgen – bisher nicht funktioniert.
Und siehe da, getreu dem Eingangszitat aus dem Neuen Testament wurde ich tatsächlich fündig. Auf der Homepage der Pfarreiengemeinschaft Morbach im Hunsrück fand ich einen äußerst gelungenen Text der im ostfriesischen Leer lebenden Autorin Birgit Rutenberg, der mit „Perspektivwechsel Corona“ überschrieben war. Deren Zeilen gefielen mir so gut, dass ich sie Ihnen nicht vorenthalten möchte:
Corona ist eine Chance!
Nein, die Wahrheit ist,
dass Corona nur den Tod bringt,
dass es uns zerstört,
dass Corona uns alles nimmt.
Ich glaube nicht,
dass Corona unsere Rettung ist,
dass es uns erweckt,
uns entschleunigt,
dass Corona durch Distanz zeigt, wie wertvoll Nähe ist.
Es ist doch so,
dass Corona uns voneinander entfernt,
uns in den sozialen Abgrund stürzt,
uns vernichtet,
dass Corona uns einsam macht.
Ich weigere mich zu akzeptieren,
dass Corona uns zeigt, worauf es im Leben ankommt,
dass wir menschlicher werden,
zusammenhalten,
aneinander denken,
dass wir nachdenken.
Es ist doch offensichtlich,
dass Corona die neue Pest ist,
dass wir alle sterben werden,
dass dies unser Ende ist.
Es wäre gelogen, würde ich sagen,
Corona bringt uns zusammen!
Und jetzt lesen Sie den Text nochmals, aber nun bitte nicht von vorn, sondern von unten nach oben! War Ihnen ein solches Stilmittel bisher bekannt? Mir noch nicht.
Birgit Rutenberg hat es verstanden, zwei völlig unterschiedliche Sichtweisen der Corona-Pandemie darzustellen. Nun kommt es auf jeden von uns an, wie wir für uns persönlich die Situation beurteilen.
Passend dazu ein Zitat des großen preußischen Baumeisters des Klassizismus, Architekten und Stadtplaners Karl-Friedrich Schinkel (1781-1841), dessen Bauwerke wie etwa die Neue Wache oder das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt noch heute das Stadtbild der Mitte Berlins prägen: „Wer die Perspektive ändert, sieht die Dinge in einem anderen Licht.“
Welcher Sichtweise der Corona-Pandemie schließen Sie sich denn nun an? Nehmen Sie sich doch einmal fünf Minuten Zeit, um diese Frage fernab jedes medialen Einflusses zu beurteilen. Meine Antwort zu dieser Frage möchte ich Ihnen mit einem Aphorismus, einer Lebensweisheit, geben: „Der eine sieht nur Bäume. Probleme dicht an dicht. Der andere Zwischenräume und das Licht.“
Freitagabend, 18.10 Uhr. Der erste Gedanke für die nächste Kolumne ist inzwischen getippt. Ein zweiter wäre aber nicht schlecht. Ich setze da alle Hoffnungen auf eine kleine Stichwortgeberin.
Freitagabend, 19.35 Uhr. „Über was schreibst Du denn nächste Woche im Blättchen“, fragt mich Leonie. (wörtliche Rede, nachgestellter Begleitsatz) Ich antworte: „Hast Du eine gute Idee?“ (wörtliche Rede, vorangestellter Begleitsatz) „Wie wäre es“, sagt die Tochter, „wenn Du einmal über die Jauch-Gottschalk-Schöneberger-Show schreiben würdest?“ (wörtliche Rede, eingeschobener Begleitsatz)
Nun wissen Sie auch, was gerade im Deutsch-Unterricht der 4. Klasse durchgenommen wird: die wörtliche Rede in ihren drei Varianten. Eltern lernen ja (wieder) mit ihren Kindern. Manches, was wir lange Jahre „einfach so“ gemacht haben, müssen wir uns nun wieder Stück für Stück erarbeiten, um es erklären zu können. Spannende Angelegenheit. Auf Geschichte, PoWi (Politik und Wirtschaft) oder Erdkunde freue ich mich schon, bei Chemie und Physik habe ich sicher unaufschiebbare Termine ... Für die Kleinen, aber auch für uns Ältere, gilt im Übrigen ein Wort des französischen Gelehrten Jean Joseph Jacolot (1770-1840): „Beim Unterricht ist die Wiederholung die Hauptsache, sie ist alles. Man behält, was man wiederholt.“
Samstagabend, 21.00 Uhr. Was kann ich denn nun aus Leonies Einfall machen? Eine gewisse Erwartungshaltung gibt es ja bei der kleinen Dame schon … Sie schaut die Jauch-Gottschalk-Schöneberger-Show, im Gegensatz zu mir, gerne und wettet regelmäßig im Vorfeld mit ihrer Oma, wer denn die Sendung moderiert. Heute lagen die beiden mit ihrem gemeinsamen Tipp „Günter Jauch“ wieder einmal goldrichtig. Vielleicht sollten sie mir demnächst einmal die Lotto-Zahlen vorhersagen… Einen Teil des Millionengewinns würde ich dann in eine Bürgerstiftung für unsere Kommune anlegen. Versprochen.
Das gibt mir die Gelegenheit nochmals auf unsere „Neustädter Rest-Cent-Aktion“ hinzuweisen. Spenden doch auch Sie regelmäßig 1, 2 Euro für kulturelle, sportliche oder soziale Zwecke in unserer Heimatstadt. Getreu einem afrikanischen Sprichwort sollte unser Motto dabei lauten: „Wenn viele kleine Menschen, an vielen kleinen Orten, viele kleine Dinge tun, können sie das Gesicht der Welt verändern!“
Interessant finde ich, dass die Herren Gottschalk und Jauch auch nach etlichen Jahrzehnten im Show-Geschäft noch ganz vorne mitmischen. Irgendwie kommt da nichts nach, was auf Dauer Bestand hat. Ein Phänomen, das wir leider in vielen Bereichen wie auch dem Vereinsleben oder der Kommunalpolitik erleben. Dabei ist es hier doch wie in einem Staffellauf, der Stab muss (rechtzeitig!) von Generation zu Generation weitergegeben werden. Dazu gehören dann immer zwei: Diejenigen, die bereit sind Verantwortung abzugeben und diejenigen, die willens sind, sie zu übernehmen. Egal ob der zu diesem Gedanken passende Ausspruch nun vom englischen Staatsmann Thomas Morus (1478-1535), dem österreichischen Komponisten Gustav Mahler (1860-1911) oder Benjamin Franklin (1706-1790), einem der Gründer Väter der Vereinigten Staaten von Amerika, stammt, er ist zweifellos richtig: „Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.“
Der Titel der von Leonie ins Spiel gebrachten Show lautet korrekt „Denn sie wissen nicht, was passiert.“ Ersetzen wir das „sie“ mal durch „wir“, dann haben wir in meinen Augen eine durchaus passende Überschrift für die Zeit seit März 2020: „Denn sie wir wissen nicht, was passiert.“
Jetzt, sechs Monate später, wird allenthalben eine Zwischenbilanz gezogen. Laut einer aktuellen und repräsentativen Umfrage für die „BILD am Sonntag“ glauben neunzig Prozent, dass Deutschland bisher gut durch die Corona-Pandemie gekommen sei. Siebzig Prozent haben demnach kein Verständnis für die gegenwärtigen Proteste. Für mich sind dieses gute Zahlen. Belegen sie doch die in der letzten Woche an dieser Stelle angemahnte Einigkeit bei der Krisenbewältigung.
Natürlich sehen die Verantwortlichen manches anders als noch zu Beginn der Corona-Pandemie. Gesundheitsminister Jens Spahn hat dies vor einigen Tagen klar und deutlich gesagt und festgestellt, dass Politik und Wissenschaft heute die notwendigen Abwägungen zwischen Schutz und Alltag besser treffen könne, weil es einfach mehr Erfahrungen gebe. Zugleich bat er die Menschen, doch miteinander zu reden, sich über unterschiedliche Meinungen auszutauschen. „Dass nicht jeder in seiner Facebook-WhatsApp-Gruppen-Welt bleibt, immer aggressiver wird und gar nicht mehr den Kontakt zu denjenigen sucht, die vielleicht anderer Meinung sind“, kritisierte der Minister nach meiner Auffassung zu Recht und fügte hinzu: „Was muss eigentlich passiert sein in diesem Land, dass wir uns nicht mehr zuhören?“
Ja, es wurden einzelne Fehler von den Verantwortlichen gemacht, aber die große Linie stimmte dennoch. Auch hier gibt es ein passendes Wort aus dem Neuen Testament. Diesmal stammt es vom Evangelisten Johannes. In dessen achtem Kapitel heißt es: „…Wer von Euch ohne Sünde (Fehler) ist, der werfe den ersten Stein …“
Ein kleiner Tipp noch: Gehen Sie doch einmal in unsere katholische Pfarrkirche. Setzen sich dort in eine der Bänke und schauen auf den barocken Hochalter. Dort sind die vier Evangelisten Johannes, Markus, Matthäus und Lukas dargestellt. Wissen Sie, welcher der Herren wer ist? Die Attribute Stier, Mensch, Adler und Löwe helfen Ihnen bei der Lösungsfindung.
Wer handelt, der macht nie alles richtig. Keine Fehler macht nur der, der den Kopf in den Sand steckt wie der Vogel Strauß und nichts tut. Wie heißt es in einem Sprichwort: „Fremde Fehler beurteilen wir als Staatsanwalt, die eigenen als Verteidiger.“ Hüten wir uns bitte davor.
Auch für die kommenden Wochen und Monate heißt es leider „Denn wir wissen nicht, was passiert.“ Zu viele Unwägbarkeiten liegen noch vor uns. Für mich ist es daher unabdingbar, dass der bisherige Kurs im Grundsatz beibehalten werden muss. Ich sehe keine vernünftige Alternative dazu. Der explosionsartige Anstieg der Fallzahlen in unserem Nachbarland Frankreich macht mir Sorgen, dazu darf es bei uns nicht kommen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erkennt zwar „Licht am Ende des Tunnels“, er sagt aber zugleich auch, dass wir nicht wissen, wie lange die Wegstrecke noch ist, die vor uns liegt. Ein Sprint über 100 m wird es sicher nicht sein, eher eine Mittel- oder gar eine Langstrecke.
Wir müssen daher weiterhin klug agieren. Das ist meine heutige Bitte an Sie.
Thomas Groll
Bürgermeister