Gedenken an die Opfer des NS-Terrors
Der Mensch hat keinen Preis. Der Mensch hat Würde.
Am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, wird an die Millionen Menschen erinnert, die unter der Naziherrschaft entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden. Soldaten der Roten Armee hatten an diesem Tag des Jahres 1945 die Überlebenden des Vernichtungslagers Ausschwitz-Birkenau befreit. Der damalige Bundespräsident Prof. Dr. Roman Herzog führte den Holocaust-Gedenktag 1996 in Deutschland ein. 2005 erklärte die UNO den 27. Januar zum internationalen Gedenktag.
Vor einem Jahr wurde aus diesem Anlass das von Hans Schohl geschaffene Denkmal auf dem Neustädter Rathausplatz eingeweiht. Auch am 27. Januar 2022 trafen sich rund dreißig Bürgerinnen und Bürger, darunter zahlreiche in der Kommunalpolitik Tätige, zunächst an dieser Stelle, um der jüdischen Opfer aus Neustadt und Momberg zu gedenken.
Im Anschluss traf man sich aufgrund des kalten und regnerischen Wetters unter Corona-Bedingungen im Historischen Rathaus.
Bürgermeister Thomas Groll zitierte zu Beginn seiner Ansprache Worte Roman Herzogs aus dessen Ansprache des Jahres 1996.
„Warum diese Rückschau, heute nach über 50 Jahren? Warum vor allem unser Wille, die Erinnerung lebendig zu halten? Wäre nicht auch der Wunsch verständlich, Gewesenes zu vergessen, die Wunden vernarben und die Toten ruhen zu lassen? Tatsächlich könnte heute das Vergessen eintreten; denn Zeitzeugen sterben und immer weniger Opfer können das Grauen des Erlittenen persönlich weitertragen. Geschichte verblasst schnell, wenn sie nicht Teil des eigenen Erlebens war. Deshalb geht es darum, aus der Erinnerung immer wieder lebendige Zukunft werden zu lassen. Wir wollen nicht unser Entsetzen konservieren. Wir wollen Lehren ziehen, die auch die künftigen Generationen als Orientierung verstehen.
Dieses Gedenken ist nicht als an die Zukunft wirkendes Schuldbekenntnis gemeint. Schuld ist immer höchstpersönlich, ebenso wie Vergebung. Sie vererbt sich nicht. Aber die künftige Verantwortung der Deutschen für das „Nie wieder!“ ist besonders groß, weil sich früher viele Deutsche schuldig gemacht haben. Es ist wahr, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Aber ebenso wahr ist, dass Geschichte die Voraussetzung der Gegenwart ist und dass der Umgang mit der Geschichte damit auch zum Fundament der Zukunft wird.“
Der Bürgermeister hob hervor, dass die Worte Roman Herzogs auch sechsundzwanzig Jahre später nach wie vor Aktualität genießen würden. Antisemitismus und Gewalt gegen Schwächere habe leider immer noch einen Platz in unserem Lande, nehme sogar zu. Daher müsse, so wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dieser Tage gesagt habe, die schweigende Mehrheit mutiger werden und den Werten unseres Grundgesetzes auch eine Stimme geben und damit zum Ausdruck bringen, dass eine Minderheit nicht die öffentliche Meinung beherrschen dürfe.
Thomas Groll erinnerte daran, dass am Neustädter Ehrenmal für die Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft, Terror und Vertreibung Worte des ehemaligen Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäckers stünden: „Ehren wir die Freiheit. Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns das Recht!“ Dieser Ausspruch müsse Maxime für unser Handeln sein. Wenn wir der Opfer des NS-Staates gedenken, legen wir auch ein Bekenntnis zum freiheitlichen Deutschland ab.
Zur Konzeption des Denkmals von Hans Schohl, an dem das Wort Immanuel Kants „Der Mensch hat keinen Preis. Der Mensch hat Würde.“ angebracht ist, gehört es, dass dort wechselnd „Erinnerungsbücher“ angebracht werden. Das erste stammt vom Künstler selbst, der ebenfalls an der Gedenkstunde teilnahm. Er beschäftigte sich dabei mit der fiktiven Lebensgeschichte von Hans Lilienfeld, der am 10.4.1930 in Neustadt geboren wurde und im Jahre 1944 im Konzentrationslager Ausschwitz ums Leben kam.
Das zweite Buch hat nun Dr. Annegret Wenz-Haubfleisch, stellvertretende Leiterin des Staatsarchivs Marburg/Lahn und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Landsynagoge Roth verfasst. Sie geht hierbei auf das Schicksal von Karl Stern und seiner Familie, einst wohnhaft in der Lehmkaute 7, ein. Die Historikerin gab den Anwesenden hierzu nähere Erläuterungen.
Karl Stern wurde am 30. März 1901 als ältester Sohn von Salomon und Rosa Stern geboren. Seine Vorfahren waren spätestens im 18. Jahrhundert in Neustadt ansässig. Seine ältesten Ahnen waren Noah Salomon (gest. vor 1794) und Salomon Stern (geb. 1788).
Alle Sterns gingen traditionellen jüdischen Geschäften nach. Der Urahn Salomon war Kleinhändler, Noah Viehhändler. Karl Stern selbst verließ die bekannten Pfade und begann etwas Neues. Nach dem Besuch der Volksschule in Neustadt absolvierte er eine dreijährige kaufmännische Lehre. Von 1917 – 1919 war er Handlungsreisender. Seit 1919 arbeitete er als selbstständiger Handelsvertreter für Wein und Liköre. 1930 heiratete er die gelernte Schneiderin und Modistin Erna Abraham (geb. 1905) aus Okriftel bei Hattersheim am Main. Ihnen wurden drei Kinder geboren, Hans, Ellen und Marion. In religiöser Hinsicht hielt die Familie die Feiertage, ging dann und zu anderen Gelegenheiten in die Synagoge, führte aber kein streng religiöses Leben.
Schlagartig änderte sich die Situation der Sterns 1938. Bis dahin hatte Karl Stern sogar seinen Geschäften noch nachgehen können. Traumatisch verlief die Pogromnacht des 8. November für die Familie, als mit Knüppeln bewaffnete SA-Männer gewaltsam in das Haus eindrangen, Haustüre und Fenster zertrümmerten, Karl Stern zusammenschlugen und ihm eine mehrere Zentimeter große Platzwunde am Hinterkopf zufügten. Er verlor daraufhin das Bewusstsein. Sein Auto wurde zertrümmert. Am nächsten Morgen wurde Karl Stern in das Jüdische Krankenhaus nach Frankfurt gebracht, da er in keiner Klinik in Marburg Aufnahme fand. Hier blieb er mehrere Wochen. Noch am Krankenbett in Frankfurt veranlasste man Karl Stern, sein Haus zu verkaufen. Die Familie blieb dort aber zunächst weiter wohnen. Fortan wurde er zur Zwangsarbeit verpflichtet: zu Baumfällarbeiten und dem Ausheben von Gräben, auch in Ziegeleien und Gaswerken wurde er eingesetzt.
Eines Tages im Mai 1941 musste die Familie ihr Haus verlassen und mit vier oder fünf anderen Familien in das Haus von Sally Levi in die „Krumme Gasse“ (Bogenstraße) ziehen. Ihr Haus wurde in dieser Zeit von der Gestapo geplündert. Der Umzug war nur eine kurze Zwischenstation, denn noch im selben Monat mussten sie wie alle anderen Neustädter Juden auch nach Roth bzw. Fronhausen umziehen. Die fünfköpfige Familie Stern und Großmutter Paula Abraham wurden im Dezember 1941 mit vielen Juden aus dem Raum Marburg über Kassel in das Ghetto Riga in Lettland deportiert. Den Ankömmlingen bot sich ein furchtbarer Anblick, hatte die SS doch kurz davor mehrere Zehntausend lettische Juden ermordet.
Mit der Ankunft in Riga begann für die Familie Stern eine Zeit unvorstellbarer Leiden aufgrund sich stetig zuspitzender Lebensbedingungen, Misshandlungen und beständiger Gefahr willkürlich verübten Mordes. Hinzu kam, dass sie eine wahre Odyssee durch verschiedene Konzentrationslager durchmachte, bis sie kurz vor Kriegsende in Kiel-Hassee, dem sogenannten Lager Nordmark, endlich befreit wurde. Nicht mehr dabei waren Großmutter Paula und Tochter Marion, die beide im November 1943 aus dem in Auflösung befindlichen Ghetto Riga abtransportiert wurden und deren Schicksal bis heute ungeklärt ist.
Nach der Befreiung am 1. Mai 1945 wurden sie aufgrund einer Vereinbarung mit dem schwedischen Roten Kreuz nach Schweden gebracht. Karl Stern wog damals noch knapp 45 kg. Seine Frau war so geschwächt, dass sie kaum noch laufen konnte. In Schweden konnten sie sich in Sanatorien regenerieren, bis sie 1947 gemeinsam in die USA auswanderten. Sie wohnten zunächst in New York, zogen dann nach New Jersey um. Erna Stern verstarb 1995, ihr Mann Karl 1996. Sohn Harry verstarb bereits 1999, ob Ellen hochbetagt noch lebt ist leider nicht bekannt.
Das bereits benannte Kant-Zitat aufnehmend appellierte Dr. Annegret Wenz-Haubfleisch abschließend an die Anwesenden, sich stets darauf zu besinnen, dass es in Artikel 1 des Grundgesetzes heiße „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Bevor – wie vorgesehen - Thorsten Schmermund, stellvertretender Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Marburg, die Gedenkstunde beendete, ergriff spontan eine Dame der jüdischen Gemeinde das Wort. Sie wurde in der Ukraine geboren und lebt seit dreißig Jahren in Deutschland. Eindringlich schilderte sie die Sorgen der Ukrainer vor einem militärischen Überfall Russlands und mahnte eine Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit ihres Geburtslandes ein. Die Lieferung von 5.000 Helmen nannte sie in diesem Zusammenhang beschämend.
Schmermund intonierte zunächst das bedeutendste jüdische Gebet zum Andenken an die Verstorbenen „El male rachamim - Gott voller Barmherzigkeit“, bevor er noch in deutsch und jüdisch das Heiligungsgebet „Kaddisch“ sprach.
(Fotos: Florian Lerchbacher / Dr. Annegret Wenz-Haubfleisch)