Gedenkfeier zur Pogromnacht in Weimar-Roth
Erinnerung an die nach Roth verbrachten Neustädter Juden
Am 8. November 2021 hatte der Arbeitskreis Landsynagoge Roth zu einer Gedenkstunde anlässlich der Pogromnacht vom November 1938 in den Weimarer Ortsteil Roth eingeladen. Hieran nahmen aus Neustadt Bürgermeister Thomas Groll, Erster Stadtrat Wolfram Ellenberg, Stadträtin Andrea Bauscher, Stadtverordnetenvorsteher Franz-W. Michels, der Momberger Ortsvorsteher und stelltvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Jörg Grasse und CDU-Fraktionsvorsitzender Hans-Dieter Georgi teil.
Zu Beginn begrüßte Dr. Annegret Wenz-Haubfleisch, Vorsitzende des Arbeitskreises, die rund 50 Anwesenden und erinnerte an das damalige Geschehen.
„Was geschah in der Pogromnacht am 8. November 1938 in Neustadt und Roth? Wie kam es zur Zwangsumsiedlung der Neustädter Juden nach Roth und Fronhausen? Wie war ihr weiteres Schicksal? Unsere Städte und Dörfer hier im nördlichen Hessen bildeten 1938 den schändlichen Testfall für die Pogromnacht. Die Nazis erprobten hier bereits seit dem 7. November wie weit man die Gewalt gegen Synagogen, Geschäfte, Wohnhäuser und jüdische Menschen treiben konnte, ohne einen massiven Protest der Bevölkerung zu riskieren. Da dieser ausblieb, ließ man die Gewalt in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 dann im gesamten Deutschen Reich eskalieren.
Im Raum Kassel wurde am 7. November die Zündschnur gelegt, die dann zu den systematischen explosiven Ausschreitungen am 8. November hier in unserer Region führte, so auch in Roth und in Neustadt, in Kirchhain, in Momberg, in Wetter, in Mardorf, in Fronhausen – überall.
In Roth drangen am Abend des 8. November SA-Leute mit Äxten ausgerüstet in die Synagoge ein, zerschlugen das gesamte Inventar und warfen es auf die Straße. Wegen der eng angrenzenden Bauernhöfe mit ihrem Stroh und Heu in den Scheunen unterblieb die Brandstiftung. Die Synagoge musste 1939 an Anwohner verkauft werden und diente bis in die 1980er Jahre als Getreidespeicher. In Neustadt gingen die SA-Männer ähnlich vor. Auch hier wurde die Synagoge innen völlig demoliert und es soll auch gezündelt worden sein. 1939 veranlasste man den Abriss, verkaufte aber vorher noch brauchbare Ziegel, Balken und Dachrinnen. In Neustadt flogen aber auch Steine gegen Wohnungen und Geschäfte von Juden. In Karl Sterns Haus, Lehmkaute 7, drangen sogar SA-Leute ein, schlugen ihn bewusstlos und fügten ihm eine zentimeterlange Platzwunde am Kopf zu, die genäht werden musste. Aufgrund seiner schweren Verletzungen verbrachte er drei Wochen im jüdischen Krankenhaus in Frankfurt und kehrte erst dann mit seiner Familie nach Neustadt zurück.
Unmittelbar nach den Pogromen nahmen die Nazis in ganz Deutschland, also auch in Roth und in Neustadt, Männer fest und transportieren sie in das KZ Buchenwald, von wo sie nach Wochen und Monaten völlig traumatisiert zurückkehrten. Von nun an zog der NS-Staat den Knoten um die Existenz und das Leben der Juden in Deutschland immer enger zu. Sie mussten ihre Geschäfte aufgeben und unter Wert verkaufen – man sprach von der „Arisierung“. Stattdessen mussten sie Zwangsarbeit leisten: als Waldarbeiter, beim Straßenbau, in der Straßenreinigung, in Ziegel- und Gaswerken.
Selbst ihre Wohnungen und Wohnhäuser wurden ihnen genommen. So wurde Karl Stern veranlasst, sein Haus zu verkaufen, noch während er in Frankfurt im Krankenhaus lag. Anschließend wohnte er im eigenen Haus zur Miete. Der nächste Schritt war die Ghettoisierung der Juden. In größeren Städten wurden sie in sogenannten „Judenhäuser“ zusammengepfercht, etwa in Marburg.
In Neustadt beschritt man diesen Weg im Mai 1941. Zunächst veranlasste man die zur Miete wohnenden Familien, in das ehemalige Haus von Sally Levi, Bogenstraße 1, umzuziehen. Darunter auch Karl Sterns Familie. Einige Tage später erhielten dann alle 31 noch in Neustadt lebenden Juden den Befehl, binnen 48 Stunden nach Roth bzw. Fronhausen um- und bei jüdischen Familien dort einzuziehen. Nur wenig Hab und Gut konnten sie mitnehmen. Unter ihnen waren Greise, Väter, Mütter und Kinder. Die meisten Rother und Neustädter Juden wurden nach wenigen Monaten am 8. Dezember 1941 in das Ghetto Riga in Lettland, die übrigen am 6. September 1942 in das Ghetto Theresienstadt in der Tschechoslowakei deportiert. Die meisten fanden dort oder in Ausschwitz den Tod.“
Neben der Kreisbeigeordneten Karin Szeder und Weimars Bürgermeisters Peter Eidam sprach auch Thomas Groll zu den Anwesenden. Er verwies darauf, dass er Jahrgang 1970 sei. Er könne sich kaum vorstellen, dass gerade einmal 29 Jahre zuvor in Deutschland solche Ereignisse passiert seien. In den 70er Jahren hätte sich Deutschland als weltoffenes Land mit den Olympischen Spielen in München oder der Fußballweltmeisterschaft präsentiert und die politische Aussöhnung insbesondere mit den Staaten Osteuropas sei unter Bundeskanzler Willy Brandt vorangeschritten, nach dem die Westintegration bereits in den späten 50er und 60er Jahren unter Konrad Adenauer eingeleitet worden sei. Es sei aus heutiger Sicht völlig unverständlich, wie es dazu kommen konnte, dass 6 Mio. Menschen im deutschen Namen in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Es gelte, den Anfängen zu wehren und auch Schmierereien, wie sie kürzlich in Neustadt mit Hakenkreuzen geschehen seien, ernst zu nehmen. Für ihn sei immer das Beispiel Weimar in Thüringen besonders einprägsam. Im 18. Jahrhundert hätte dort deutscher Geist – Goethe, Schiller, Herder – geherrscht. Mit Buchenwald sei in den späten 1930er Jahren deutscher Ungeist eingezogen. Die gemeinsame Aufforderung müsse lauten:
Nie wieder!
Die Schülerinnen und Schüler der Martin-von-Tours-Schule, Lennon Noah Dörr, Max Nitschowski, Charlotte Kuty, Angelika Preusker (alle 9b) und Malin Bürgermeister (10 a) waren mit ihrer Lehrerin Grit Adam ebenfalls nach Roth gekommen. Sie lasen dort die Namen der Rother Juden vor, bei denen die Neustädter Juden einquartiert wurden. Sie brachten mit Mitgliedern des Arbeitskreises Kerzen zu den Gebäuden, wo die Menschen untergebracht waren. Ein Dank gilt Gerald Schenk, der die Schüler kurzfristig mit dem „Bürgerbus“ nach Roth fuhr.
Zum Abschluss der Feierstunde trug Thorsten Schmermund, stellvertretender Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Marburg, zunächst das El Male Rahamin vor, das der Opfer in den Konzentrationslagern gedenkt und dann das Kaddisch, eine Lobpreisung Gottes.
Fotos: Grit Adam, MvT-Schule