Zum Jahreswechsel
„Gewonnen kann durch Trübseligkeit nie etwas werden.“
Liebe junge und ältere Menschen in Neustadt, Momberg, Mengsberg und Speckswinkel!
Es ist neben dem bekannten Sketch „Dinner for One“ mit Miss Sophie und Butler James oder dem „Silvesterpunsch“ bei Fernseh-Familie Tetzlaff ein jährliches Ritual, dass sich Kanzler oder Kanzlerin am Silvesterabend an die Nation wenden. Ihre Reden sind dann meist feierlich, getragen und auch ein wenig nachdenklich.
Keines der jeweils zurückliegenden Jahre finden Kanzler und Kanzlerin insgesamt schlecht, auch wenn sie viele davon als schwierig oder herausfordernd bezeichnen. Immer schauen sie zugleich optimistisch ins kommende Jahr. Regelmäßig danken sie den Bürgerinnen und Bürgern und bitten um Mitwirkung.
Besondere Berühmtheit erlangte dabei die TV-Neujahrsansprache von Bundeskanzler Helmut Kohl, die das Erste Deutsche Fernsehen am 31. Dezember 1986 ausstrahlte. Die Älteren unter uns werden sich vielleicht noch daran erinnern: Statt der aktuellen Aufzeichnung wurde damals die Rede vom Vorjahr 1985 gesendet – nach Angaben von ARD und NDR aus Versehen.
Manche, die nicht genau zuhörten, bemerkten den Faux pas seinerzeit nicht einmal.
Andere, wie der CDU-Generalsekretär Heiner Geißler, konnten sich hingegen nicht vorstellen, dass daran ein „Redakteur namens Zufall oder ein Techniker namens Versehen“ schuld gewesen sein soll.
Der neue Bundeskanzler Olaf Scholz hielt nun am 31. Dezember 2021 seine erste Neujahrsansprache und blieb mit seinen Worten der zu Beginn dargestellten Tradition treu.
Aufgrund der aktuellen Situation verwundert es nicht, dass der Kampf gegen Corona dabei den größten Teil der Rede einnahm. Und wenn er zu Solidarität, Zusammenstehen gegen die großen Krisen und auch zum Impfen als „dem“ Weg aus der Pandemie aufforderte, dann kann man dem Kanzler nur zustimmen.
Zurecht wies Olaf Scholz im Verlauf seiner Ausführungen darauf hin, dass wir im täglichen Miteinander auch unterschiedliche Meinungen und Einschätzungen – gerade zum Thema Corona – erleben. Dies sei oft anstrengend, aber eine starke Gemeinschaft halte Widersprüche aus, wenn man einander zuhöre und Respekt voreinander habe.
Gegenwärtig vermag in unserem Land eine Minderheit die Entscheidungen der großen Mehrheit für sich nicht mitzutragen. Dies bedauere ich, muss es aber entsprechend der Kanzlerworte hinnehmen.
Wer einen anderen Weg für sich wählt, der muss als Konsequenz daraus momentan mit manchen Einschränkungen leben. Vielen von uns, auch mir, scheinen diese zum Schutz der Gesundheit der Gesamtheit gerechtfertigt zu sein. Kein Verständnis habe ich aber für manche Wortwahl von „Impfgegnern“ oder dafür, dass sich einige von ihnen sogar radikalisieren und Polizisten bei Demonstrationen tätlich angreifen oder zum Teil Kinder als „Schutzschilder“ benutzen. Das ist in einer Demokratie zweifellos der falsche Weg und nicht hinnehmbar.
Auch in unseren Nachbarländern haben Neujahrsansprachen eine lange Tradition.
Der österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen beschrieb die momentane Situation in seiner diesjährigen Rede wie folgt: „Je länger der Ausnahmezustand anhält, desto deutlicher machen sich Gräben in unserer Gesellschaft bemerkbar. Auf Ungeduld, Skepsis, Kritik, Empörung und Enttäuschung folgen Wut, Zorn, Angst; Stimmen, die alles besser wissen, Stimmen von Misstrauen, Stimmen, die von Verschwörungen sprechen, von Unversöhnlichkeit, aber auch echte Verzweiflung. Heute sind diese Stimmen zum Teil so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Geschweige denn das des anderen. Und trotzdem: Wir dürfen den Mut nicht verlieren. Dies ist jetzt unsere Pflicht als Staatsbürger, nämlich nicht loslassen, dranbleiben, füreinander da sein. Wir müssen - wie es in der österreichischen Bundeshymne heißt - mutig den neuen Zeiten entgegengehen.“
Klare Worte, denen es aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen gibt.
Nicht nur Politiker wenden sich zum Jahreswechsel an die Bevölkerung, auch Vertreter der christlichen Kirchen tun dies seit Jahrzehnten. Besondere Berühmtheit erlangten dabei zwei Silvesterpredigten: 1946 prägte der Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Frings (1887-1978) das Wort vom „fringsen“ und billigte damit den Diebstahl von Kohle in der Not der Nachkriegszeit. 1960 predigte der Münchner Oberhirte Kardinal Joseph Wendel (1901-1960) zunächst im Liebfrauendom und verstarb unmittelbar nach der Jahresschlussandacht an einem Herzinfarkt.
Eine wie ich finde bemerkenswerte Silvesterpredigt hielt diesmal der Fuldaer Bischof Dr. Michael Gerber, der ebenso wie die Bischöfin der evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Prof. Dr. Beate Hofmann, im Rahmen unseres Stadtjubiläums 2022 nach Neustadt kommen wird. Beide leben übrigens eine vertrauensvolle Ökumene, so wie es ja auch in unserer Kommune seit längerem der Fall ist.
Die Welt, so Bischof Dr. Gerber bei seiner Predigt, sei unübersichtlich geworden. Zusammenhänge seien vielschichtig und häufig schwer zu erfassen. Klimawandel, Pandemie, das Erstarken autoritärer Staatsformen, Migration, die Unterschiede zwischen Arm und Reich – all diese Phänomene stünden in Wechselwirkungen zueinander, ohne dass wir die Wirkgeschichten vorhersehen könnten. Umso mehr komme es darauf an, Polarisierungen zu überwinden und auch die Argumente Andersdenkender anzuhören.
Die Versuchung liege nahe, hier einfache Antworten zu konstruieren, mahnte der Bischof von Fulda. Für ihn kommt es aber entscheidend darauf an, Wirklichkeiten differenziert zu erfassen und auszuhalten, dass es auf viele Fragen unserer Zeit keine einfachen Antworten gibt.
Zum Abschluss seiner Predigt befasste sich der Oberhirte mit unserem demokratischen Gemeinwesen und sprach mir dabei aus dem Herzen: "Die Zukunft unserer Demokratie wird sich wesentlich daran entscheiden, wie viele Menschen bereit sind, differenziert wahrzunehmen, in Alternativen zu denken, Komplexität und damit auch ein gutes Stück Ungewissheit auszuhalten", Dazu gehört nach Gerbers Worten auch die Bereitschaft, die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger zwar kritisch zu begleiten, ihnen angesichts der großen Ungewissheiten aber auch zuzugestehen, Entscheidungen zu treffen, deren Wirkung heute nur sehr begrenzt eingeschätzt werden können.
Neben Präsidenten, Kanzlern und Bischöfen wenden sich zum Jahreswechsel auch viele Bürgermeister an die Menschen in ihrem Verantwortungsbereich.
Bei mir ist es nun bereits zum fünfzehnten Male der Fall und ich tue es nach wie vor gerne. Habe ich doch dadurch die Möglichkeit, Ihnen allen mitzuteilen, was mich zum Jahreswechsel bewegt und kann Sie vielleicht ein wenig zum Nachdenken anregen.
Mein Dank gilt dem Team vom „Mitteilungsblatt“ dafür, dass ich dies an dieser Stelle stets ausführlich darf, denn bekanntermaßen tue ich mich mit dem Ausspruch „In der Kürze liegt die Würze“ bei meinen Texten manchmal etwas schwer. Hoffe aber immer, dass Sie nachsichtig mit mir sind und meine Gedanken dennoch bis zum Ende lesen.
Ihnen und Ihren Familien wünsche ich auf diesem Wege natürlich ein gesundes und erfülltes neues Jahr 2022.
Ein Jahr, das uns (endlich!) gut und wohlbehalten aus der Corona-Krise herausführen soll. Möge es gelingen, dass möglichst viele unserer Wünsche Wirklichkeit werden.
Zudem bietet ein Jahreswechsel mir auch immer die Gelegenheit, mich bei denen zu bedanken, die wertvolle Dienste für unsere Gemeinschaft erbringen: Im Privaten bei der Pflege kranker und alter Menschen oder der Erziehung bzw. Betreuung von Kindern, im sozialen, caritativen sowie medizinischen Bereich und in den Kirchengemeinden, Religionsgemeinschaften und Vereinen, bei der Lebensmittelerzeugung und -verarbeitung und im Einzelhandel, bei den Hilfs- und Rettungsorganisationen, in der Kommunalpolitik oder bei Polizei und Bundeswehr.
Lassen Sie mich diesen Dank in Worte fassen, die meine Gattin dieser Tage durch Zufall fand:
„Zeit für ein Danke - Vergangenes wertschätzen, Gutes weiterleben lassen und aus dem Schlechten lernen. Mit dem kleinen Wort „Danke“ Großes ansprechen und damit den Weg vorwärts gehen.“
Für unsere Heimatstadt wird das Jahr 2022 ein besonderes sein: Wir feiern Stadtjubiläum und gedenken der urkundlichen Ersterwähnung Neustadts im Jahre 1272. Dabei wollen wir getreu unserem Motto „Neustadt gestern – heute – morgen“ die Vergangenheit bedenken, in der Gegenwart leben und die Zukunft verantwortungsvoll gestalten.
Hoffen wir, dass wir ab April tatsächlich wie (um-)geplant gemeinsam feiern können und dass es – in welchem Rahmen auch immer – in diesem Jahr wieder eine Trinitatis-Kirmes gibt.
Neben dem Feiern bietet ein solches Jubiläum auch immer die Chance, in die Zukunft zu blicken.
Geht es Ihnen dabei auch so wie mir: Haben auch Sie das Empfinden, dass wir in einer Art „Zeitenwende“ leben?
Als der leider schon 1991 verstorbene Pfarrer Reinhold Schuchardt 1978 nach Neustadt kam, führte er rasch ein grünes Liederbuch mit modernen christlichen Liedern vorrangig für Kinder- und Jugendgottesdienste ein. Sicher können sich viele noch daran erinnern. Darin war auch ein Text des langjährigen Bamberger Generalvikars Alois Albrecht, einem Pionier des neuen geistlichen Liedes in Deutschland, abgedruckt. Dessen Refrain lautet: „Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde. Heute wird getan oder auch vertan, worauf es ankommt, wenn er kommt.“
Aussagen, die auf die momentanen gesellschaftlichen Herausforderungen in unserem Land – und damit auch in unserer Heimatstadt - voll und ganz zutreffen und einen Auftrag an alle Verantwortungsträger auf den unterschiedlichsten Ebenen formulieren.
In vielen Bereichen müssen jetzt – eben auch bei uns vor Ort – die Weichen neu gestellt werden. In meiner Haushaltsrede 2022, die in diesen Wochen in Auszügen im „Mitteilungsblatt“ abgedruckt wird, gehe ich näher darauf ein.
Wir müssen in vielen Bereichen althergebrachte Pfade Schritt für Schritt verlassen, um zukunftsfähig zu bleiben. Dies ist nicht immer einfach und wird auch mit der Abkehr von Liebgewonnenem verbunden sein. Wir müssen es aber tun – gerade für die nach uns folgenden Generationen.
Wie hat schon der „Dichterfürst“ Friedrich von Schiller (1759-1805) einst so treffend formuliert: „Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit.“
Damit dies gelingt, braucht es die entsprechenden finanziellen und personellen Möglichen in Bund, Land und Kommune und auch der Einzelne sollte durch entsprechende Programme angesprochen und motiviert werden.
Bedenken wir dabei aber stets ein Wort des aus der Schweiz stammenden Verlegers und Autors Emil Oesch (1894-1974): „Ein Mensch ohne Plan ist wie ein Schiff ohne Steuer.“
Wir müssen also jedes Projekt bedenken, planen und umsetzen – und zwar in dieser Reihenfolge.
Nach meinem Dafürhalten sind wir hier als Kommune auf einem guten Wege, den wir engagiert fortsetzen wollen, und auch die Finanzen sind vor Ort geordnet.
Da die Gattin und Mutter in der Silvesternacht Dienst bei der Polizei hatte, mussten Leonie und ich die Glückskekse, die bei uns nicht aus China, sondern aus Speckswinkel stammten, gegen Mitternacht alleine öffnen. Da stand dann auf meinem Zettelchen zu lesen: „Finanzielle Angelegenheiten können besser aussehen, als Sie erwartet haben.“ Eine Vorhersage, die den Kämmerer doch erfreut.
Aber leider wissen wir alle, dass Mark Twain (1835-1910), der Autor der Bücher über die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckelberry Finn, Recht hatte, als er einmal schrieb: „Prognosen sind schwierig, insbesondere, wenn sie die Zukunft betreffen.“
Das Jahr 2022 liegt nun also vor uns und wir alle sind gespannt, was es uns bringen wird.
Oftmals spricht man davon, dass das neue Jahr wie ein unbeschriebenes Buch sei, dessen Seiten wir nun füllen müssen.
Ein anderes, mir gut gefallendes, Bild verwendete der Boulevard-Journalist Franz-Josef Wagner am Silvestertag in seiner „Post von Wagner“ in der BILD-Zeitung. Er bezog sich dabei auf das Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen: „Wenn das Jahr zu Ende geht, springen sie - die Skispringer - in das neue. Wagemutig und ohne Angst … Wann wagen wir Fernsehzuschauer zu springen?“
Liebe junge und ältere Menschen in Neustadt, Momberg und Speckswinkel tun wir es den Skispringern gleich. Springen wir mutig – so wie es auch Alexander van der Bellen forderte -dem neuen Jahr 2022, der neuen Zeit entgegen.
Beherzigen wir dabei das Lebensmotto des am 17. Dezember 2021 im Alter von 91 Jahren verstorbenen Verlegers und Autors Klaus Wagenbach: „Gewonnen werden kann durch Trübseligkeit nie etwas werden.“ Dies gilt gerade in herausfordernden Zeiten wie diesen.
Ähnelt dieser Ausspruch nicht einem Wort jener Frau, die 16 Jahre lang unser Land durch viele Krisen führte, und der heute das „letzte Wort“ gebühren soll: „Ich bin überzeugt, dass wir die Zukunft weiter gut gestalten können und zwar, wenn wir uns mit Fröhlichkeit im Herzen an die Arbeit machen.“ (Angela Merkel beim Großen Zapfenstreich zu ihrem Abschied als Bundeskanzlerin)
Uns allen wünsche ich ein gutes Jahr 2022 – bleiben wir gesund und holen uns durch Vernunft die Normalität zurück!
Thomas Groll
Bürgermeister