„Ein Haus voll Glorie schauet weit über alle Land …“
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
für wahre Boxfans ist der 20. Juni 1960 auch heute noch ein Tag, der sie in Erinnerungen schwelgen lässt. Es ist nämlich der Tag, an dem der erste Schwergewichtler das berühmt-berüchtigte „They never come back“ („Sie kommen niemals wieder“) durchbrach. Max Schmeling, Joe Louis und auch Rocky Marciano scheiterten zuvor allesamt daran, die Krone des Boxens zum zweiten Male zu erringen. Anders Floyd Patterson. Der stellte sich im Sommer 1960 in New York dem Weltmeister Ingemar Johansson, der ihn zuvor besiegt hatte, zu einem Refight. Der Schwede war klarer Favorit, dennoch siegte der US-Amerikaner mit einem schweren Knockout in der fünften Runde und brach damit nach über siebzig Jahren das ungeschriebene Gesetz für ehemalige Schwergewichtsweltmeister, dass sie, wenn sie denn einmal entthront sind, niemals mehr zurückkehren werden.
Muhammad Ali (1942 – 2016) gelang es übrigens später sogar dreimal auf den Box-Olymp zurückzukehren. Eine einmalige Leistung einer Sportlegende. In den siebziger Jahren hingen Millionen Deutsche, darunter auch mein Opa Edi, an den Fernsehern, wenn „der Größte“ in den Ring stieg. Muhammad Ali holte 1960 noch als Cassius Clay Gold bei den Olympischen Spielen in Rom – 1996 rührte er die Welt zu Tränen, als er schwer gezeichnet von seiner Parkinson-Erkrankung in Atlanta das olympische Feuer entfachte.
Keine Angst, ich kehre mit meiner Kolumne nach fast drei Monaten Pause nicht zurück und gebe kein Comeback – auch wenn es soviel zu schreiben gäbe.
Die Themen drängen sich in diesen Wochen ja geradezu auf: die „Notbremse“, widersprüchliche Regelungen von Bund und Ländern, die Frage nach dem Umgang mit dem Urlaub, teils wirre Thesen der „Querdenker“, die Auswirkungen der Schließungen von Kindergärten und Schulen auf die Kinder (und Eltern), der nach wie vor hohe Einsatz vieler Frauen und Männer in den unterschiedlichsten Bereichen unseres täglichen Lebens oder der Fortgang der Impfkampagne gehöre zweifellos dazu. Natürlich könnte man auch die politische Entwicklung in Deutschland streifen und die einsetzende Talfahrt der Frankfurter Eintracht nach der Bekanntgabe des vorzeitigen Trainerwechsels wäre ebenfalls ein paar Zeilen wert. Den Namen „des Österreichers“ der nun nach Gladbach geht, darf ich übrigens nicht mehr in den Mund nehmen, denn sonst wird die Tochter „ungemütlich“.
Aber dies alles soll heute nicht das Thema sein. Machen Sie sich hierüber selbst Ihre Gedanken. Zum „Denken“ gibt es übrigens – Sie ahnen es sicher bereits – viele tolle Zitate berühmter Frauen und Männer. Nur eines davon möchte ich Ihnen mit auf dem Weg geben. Es stammt vom US-amerikanischen Automobilpionier Henry Ford (1963-1947): „Denken ist die schwerste Arbeit, die es gibt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sich so wenig Leute damit beschäftigen.“
Ich möchte mich heute vielmehr – einmalig – einem anderen Thema zuwenden.
Wenn wir „von auswärts“ nach Neustadt zurückkehren, sehen wir an den Ortseingängen die Tafeln mit dem Schild „Neustadt präsentiert“.
Seit über einem Jahr lesen Einheimische und Auswärtige dort leider …. NICHTS. Nicht weil Kommune und Vereine nicht wollen, sondern weil wir nicht dürfen bzw. es aus Verantwortungsbewusstsein unterlassen.
In diesen Tagen würde dort die Einladung zur Neustädter Trinitatis-Kirmes hängen, denn am kommenden Wochenende jährt sich zum 517. Male die Weihe der katholischen Pfarrkirche in Mitten unserer Heimatstadt. Leider können wir das damit verbundene weltliche Fest aufgrund der Corona-Pandemie auch in diesem Jahr nicht feiern. Gleichwohl soll an dieser Stelle an dieses Ereignis, das im Leben Neustadts immer noch eine besondere Rolle spielt, erinnert werden.
Irgendwie ist es doch für uns alle unvorstellbar, dass die Kirmes in Friedenszeiten zum zweiten Male nacheinander ausfällt. Als ich vor zwölf Monaten an dieser Stelle davon schrieb, dass wir 2021 sicher wieder, wenn vielleicht auch in etwas anderer Form, in der „Lehmkaute“ zum Feiern zusammenkommen werden, hätte ich dies jedenfalls nicht geglaubt – und die meisten von Ihnen sicherlich auch nicht.
Beim Festhochamt erklingt am Dreifaltigkeitssonntag regelmäßig „Ein Haus voll Glorie schauet, weit über alle Land. Aus ew`gem Stein erbaut von Gottes Meisterhand …“. Hierbei handelt es sich um eines der meistgesungenen deutschsprachigen Kirchenlieder, das am Kirchweihtag und bei anderen festlichen Anlässen der Gemeinden regelmäßig erklingt. Den Originaltext und die Melodie schrieb 1875 Joseph Mohr.
Was hat die Stadtpfarrkirche in über fünf Jahrhunderten nicht alles erlebt, erleben müssen? Freud und Leid, Krieg und Zerstörung, Auswanderung nach Detroit und das Ankommen von Vertriebenen und Geflüchteten, Wiederaufbau und wirtschaftliche Blüte. Alles, was im Großen unseres Landes geschah, hatte natürlich auch Auswirkungen auf Neustadt.
Wie voll besetzt war die Kirche einst und was ist heute? Vor allem aber, was wird denn in zehn oder zwanzig Jahren sein? Nicht ohne Grund beschäftigt sich das Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL“ in seiner jüngsten Ausgabe mit dem Zustand der katholischen Kirche in Deutschland. Auch dies eine Entwicklung, die Sorge machen muss.
In der dritten Strophe des Originaltextes von Mohr heißt es „Das Haus wird`s überdauern. Auf festem Grund es ruht.“ Dieses Überdauern wird aber nur bei einer kritischen Bestandsaufnahme auf allen Ebenen gelingen und nicht bei einem bloßen „Weiter so“.
Jubiläen, kleine und große, sind übrigens stets eine gute Gelegenheit, nach der Zukunft zu fragen und sich dafür auch mit der Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzusetzen.
Im kommenden Jahr blicken wir in Neustadt auf 750 Jahre beurkundete Stadtrechte zurück. Lassen Sie uns „um dieses Datum herum“ mit der Frage beschäftigen, wie wir in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in dieser Kommune, in unserer Heimatstadt, leben wollen. Wie wir Themen wie Zusammenleben, Zukunft der Innenstadt oder Mobilität einschätzen oder was unser lokaler Beitrag zum Klimaschutz sein kann.
Bei der dem Mittelalter-Rock zugeordneten Band „Extremo“, die ich nur durch Googeln nach einem passenden Zitat kenne, heißt es in dem Song „Alles schon gesehen“: „Hab das alles schon gesehen. Wie es kommt und wie es geht. Hab das alles schon erlebt. Die Welt dreht sich weiter.“
So einfach ist es glaube ich nicht. Leider. Wir leben – nicht nur wegen der Corona-Pandemie - in einer extrem herausfordernden Zeit, für die die „Blaupause“, der genaue Plan, fehlt. Was man der Politik natürlich anmerkt.
Unsere Gesellschaft verändert sich rasant. Traditionen – auch die guten – brechen weg. Den „Plan für die Zukunft“ müssen wir selbst (mit)entwickeln. Dabei bedarf es des Nachdenkens und des Mutes – und möglichst vieler die mitmachen.
Natürlich darf man dabei die Erfahrungen der Vergangenheit nicht gänzlich ausblenden, denn auch darauf muss man aufbauen. Fehler, die schon einmal begangen wurden, müssen/dürfen schließlich nicht wiederholt werden.
Bezogen auf die „ew´gen Steine“ aus dem Kirchenlied gibt es einen passenden Ausspruch aus dem „alten Rom“: Saxa loquuntur, Steine können sprechen. Der erste Bundespräsident Theodor Heuss hat diesem kurzen Zitat einmal folgende Worte angefügt: „Es kommt auf den einzelnen, es kommt auf dich an, dass du ihre Sprache, ihre besondere Sprache verstehst.“
Hören wir also auf die Sprache der Sandsteine der Dreifaltigkeitskirche und ihre Erfahrungen aus fünf Jahrhunderten. Bewerten wir das Gewesene und lassen (auch) daraus den Plan für die Zukunft entstehen,
Ihnen allen wünsche ich zum Dreifaltigkeitssonntag 2021 Gesundheit. Hoffen wir gemeinsam darauf, dass es 2022 nicht nur eine Kirmes, sondern auch ein Stadtjubiläum im festlichen Miteinander gibt.
Eines noch: im letzten Jahr ermunterte ich Eltern und Großeltern, dass Kirmesgeld für die Kleinen zurückzulegen, damit sie „nach Corona“ umso mehr auf dem Rummelplatz erleben können. Das sollten Sie bitte auch diesmal tun. Die Mädchen und Jungs werden es Ihnen danken.
Bleiben Sie gesund.
Thomas Groll
Bürgermeister