„Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht.“
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
mit einem Zitat von Joachim Ringelnatz (1883-1934) habe ich diese Kolumne überschrieben. Im Verlauf meiner heutigen Gedanken werde ich immer wieder darauf zurückkommen.
Der Schriftsteller, Kabarettist und Maler, der eigentlich Hans Gustav Bötticher hieß, verfasste 1919 die ersten Gedichte unter seinem Pseudonym. Ein Jahr später folgten dann erfolgreiche Auftritte im Berliner Kabarett "Schall und Rauch", was für ihn der Start als reisender Vortragskünstler wurde.
Im Matrosenanzug als Markenzeichen wurde Ringelnatz schnell bekannt und es ergaben sich auch Schallplattenaufnahmen und ab 1927 Rundfunkauftritte. Mit seinen erfolgreichsten Gedichtsammlungen "Kuttel Daddeldu oder das schlüpfrige Leid" – „Daddeldu“ ist übrigens ein Seemanns-Wort für Feierabend und Nachtruhe - gewann Ringelnatz weiteres Ansehen als Schriftsteller, aber kaum Einnahmen, obwohl nun fast jedes seiner Bücher einen Verleger fand. Die Not blieb ein Dauergast in seinem Hause.
Ringelnatz, der sich nie für Politik interessiert hatte, geriet ins Visier der Nazis, nachdem diese 1933 an die Macht gekommen waren, erhielt Auftrittsverbot, viele seine Bücher wurden verbrannt und seine Bilder als entartet bezeichnet. Ohne Auftrittsmöglichkeiten verarmte Joachim Ringelnatz zusehends und erkrankte zudem an Tuberkulose, von der er sich nicht mehr erholte. Am 17. November 1934 starb der wortgewandte Künstler in Berlin.
Nach dem Krieg wurde Joachim Ringelnatz immer populärer und gehört noch heute zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Besonders beliebt sind dabei seine humoristischen Gedichte um die Kunstfigur "Kuttel Daddeldu".
Vom Autor stand übrigens eine gute Handlungsanweisung für hitzige Diskussionen oder Situationen: „Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt.“
Es gibt aber noch unzählige anderer Gedichte und Zitate von Joachim Ringelnatz, die seine feine Ironie belegen. Gehen Sie doch einmal selbst auf die Suche. Dank „www“ ist dies ja heute nicht allzu schwer. Drei Zitate, die mir besonders gut gefallen, will ich Ihnen aber an dieser Stelle nicht vorenthalten:
„Geld soll man sich nur von Pessimisten borgen. Die erwarten sowieso nicht, dass sie es jemals wiederkriegen.“
„Wer das Licht der Welt erblickt, wird das Dunkel schon noch kennenlernen.“
„Auch die besessensten Vegetarier beißen nicht gerne ins Gras.“
Ich finde solchen Wortwitz einfach klasse und beneide Ringelnatz schon ein wenig um diese Fähigkeit, die nicht vielen gegeben ist.
Aber wieder zurück zu ersthaften Gedanken.
Die Lebensgeschichte von Menschen wie Joachim Ringelnatz muss uns allen eine stete Mahnung sein. (Wahre) Kunst kann sich nämlich nur in einem freien Land entfalten, niemals aber in einer Diktatur, die alles vorschreibt und eingrenzt.
Auch in Deutschland mussten wir dies im 20. Jahrhundert zweimal erleben und viele Künstlerinnen und Künstler haben es in den Jahren 1933-1945 bzw. 1949-1989 selbst erlitten: Die Schriftsteller Anna Seghers (Deren Buch „Das siebte Kreuz“ lasen wir übrigens vor über dreißig Jahren in der Oberstufe. Der große Kritiker Marcel Reich-Ranicki bezeichnete es 1988 zurecht als Meisterwerk der deutschen Literatur und als den bedeutendsten deutschen Roman über das Leben während des „Dritten Reiches“ und nahm es in seinen 2002 erschienenen Kanon der deutschen Literatur auf.), Heinrich Mann (Die Verfilmung von dessen Werk „Der Untertan“, das einen kritischen Blick auf die wilhelminische Gesellschaft des Kaiserreiches um die Jahrhundertwende wirft, 1951 durch Regisseur Wolfgang Staudte ist herausragend.), Nelly Sachs und Erich Kästner, der Maler und Grafiker Otto Dix oder der Bildhauer Ernst Barlach im Nationalsozialismus, der Liedermacher Wolf Biermann, die Schauspieler Manfred Krug und Armin Müller-Stahl oder die Autorin Freya Klier in der DDR.
Manche von Ihnen könnten jetzt sagen „Oje, davon hat er doch erst neulich geschrieben“. Das stimmt, aber wenn ich heute nochmal den Wert der Demokratie betone, so soll dies keine bloße Wiederholung sein, sondern vielmehr eine Vertiefung. Es geht um etwas, was mir am Herzen liegt. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Rathaus wissen, wenn ich manches innerhalb kurzer Zeit mehrmals erwähne, dann will ich damit nicht „nerven“ (auch wenn ich dies sicherlich manchmal tue), sondern deutlich machen, dass es mir eben besonders wichtig ist.
Nie habe ich mir in den vergangenen Jahrzehnten Sorgen um die Zukunft der Demokratie in unserem Land gemacht, sie vielmehr als eine Selbstverständlichkeit angesehen. Heute ist dies etwas anders. Ich denke, es ist einfach eine Verpflichtung für uns, sich aktiv zu unserem Staat und seiner Verfassung, dem Grundgesetz, zu bekennen.
Sicher ist, dass nichts sicher ist …
Vor Jahren lass ich ein Buch von Klaus Günzel: „Das Weimarer Fürstenhaus – eine Dynastie schreibt Kulturgeschichte“. Im kleinen Fürstentums Sachsen-Weimar Eisenach wurde eines der glanzvollsten Kapitel der europäischen Kulturgeschichte geschrieben. Herzogin Anna Amalia (1739-1807), nach ihr wurde die weltberühmte Bibliothek benannt, machte aus dem unbedeutenden Kleinstaat eines der wichtigsten geistigen Zentren des 18. Jahrhunderts. Als ihr Sohn, der spätere Großherzog Carl August (1757-1828), den jungen Goethe und später auch Schiller an seinen Hof holte, begann der Aufstieg des Fürstenhauses zum strahlenden Mittelpunkt der deutschen Klassik
Die letzte Seite des besagten Buches kommt mir seitdem immer wieder einmal in Erinnerung und sie passt „wie der Deckel auf den Topf“ zu den obigen Sätzen. Dort heißt es nämlich u.a.: „… Weimar wurde zur Wiege der ersten deutschen Republik, die nach der Stadt ihren Namen erhielt. … am Ettersberg, wo einst vor Anna Amalia die „Iphigenie“ – ein Bühnenstück Goethes nach antiker Vorlage - gespielt worden war … wurden gerade einmal zwei Jahrzehnte später 55.000 Menschen systematisch ermordet. Im Konzentrationslager Buchenwald, unweit des Ettersburger Schloßparkes, … wurde der Höllenrachen Mephistos grausige Realität.“
Sicher ist, dass nichts sicher ist …
Umso mehr schüttele ich gemeinsam mit einer übergroßen Mehrheit in unserem Land ungläubig den Kopf, wenn in diesen Tagen und Wochen Corona-Leugner bei ihren Demonstrationen davon sprechen, dass „das Virus benutzt wurde, um eine Diktatur in Deutschland zu errichten.“ Welch Unsinn.
Die Bundeskanzlerin hat dazu am Wochenende mit sachlichen, aber gleichwohl klaren Worten Stellung genommen: „Mir ist bewusst, dass einige Menschen mit den Einschränkungen infolge der Corona-Pandemie hadern. Ich verstehe das. Viele der Entscheidungen für Einschränkungen sind auch mir schwergefallen. Die Kontaktbeschränkungen und die Einschränkungen des kulturellen Lebens sind demokratische Zumutungen. Dass die ganz große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger dies mitträgt, zeigt jedoch, wie ausgeprägt unser Gemeinsinn ist. Die Maßnahmen haben gewirkt und bleiben wichtig. Gleichwohl steht es jedem frei, diese Entscheidungen der Regierung offen zu kritisieren und jeder kann seine Haltung bei friedlichen Demonstrationen zum Ausdruck bringen".
Die Bundeskanzlerin wies in der Folge auf den „Internationalen Tag der Demokratie“ hin, der auf Beschluss der vereinten Nationen seit 2007 alljährlich am 15. September begangen wird.
"Wir in Deutschland können uns glücklich schätzen, dass Demokratie und Freiheit, Rechtsstaat und politische Mitverantwortung bei uns fest verankert sind. Dass das seit der Wiedererlangung der Deutschen Einheit vor fast genau 30 Jahren in ganz Deutschland gilt, empfinde ich auch ganz persönlich als großes Glück. Der Blick in andere Staaten zeigt, dass dies leider keine Selbstverständlichkeit ist. Blicken sie nur einmal auf die Lage in Belarus.“
Sicher ist, dass nichts sicher ist …
Wer die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie dennoch für überzogen hält, der mag sich nur einmal die Nachrichten des Wochenendes ansehen: „Bereits 6,5 Mio. Infektionsfälle und 193.000 Tote in den USA“, „Höchster Tagesanstieg in Frankreich seit März“, „3.000 aktive Fälle in Wien“, „Rekordzahlen in Indien und Tschechien“ …
Ja, wir dürfen und müssen alles hinterfragen und bei Bedarf auch Strategien überdenken und verändern. Nein, wir haben es bei Corona – die Krankheitsverläufe vieler Gott sei Dank Genesener zeigen uns dies leider – nicht nur mit einer bloßen Erkältung zu tun. Ja, wir sollten bestrebt sein, auch in Zeiten der Pandemie ein „Stück Normalität“ zu bewahren. Nein, wir dürfen daher nicht leichtsinnig werden und damit letztlich uns und andere gefährden.
„Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht.“ – in meinen Augen ist das nicht bloß der ironische Ausspruch eines wortgewandten Mannes, sondern durchaus eine philosophische Aussage. Der Duden definiert Philosophie als das Streben nach Erkenntnis über den Sinn des Lebens und das Wesen der Welt. Große Worte. Philosophen wie Immanuel Kant oder Georg Wilhelm Hegel haben sich darüber in epischer Breite ausgelassen. Oftmals verstehen wir gar nicht, was sie uns überhaupt sagen wollen. Joachim Ringelnatz hingegen hat eine wichtige Erkenntnis in zwei einfachen Sätzen zusammengefasst. Wir alle finden ohne Probleme Beispiele aus dem Alltag für seine Aussage.
Die Krankheit, die so unverhofft auftritt, die Niederlage des großen Favoriten im DFB-Pokalspiel am Wochenende oder eben die Corona-Pandemie, die so vieles Gewohnte in unserem Leben durcheinanderbringt.
Sicher ist, dass nichts sicher ist …
Beispiele dafür sind auch unsere Kindergärten und Schulen, wo gegenwärtig „Regelbetrieb unter Pandemie-Bedingungen“ stattfindet. So gibt es in den vierten Klassen aktuell keinen klassenübergreifenden Religionsunterricht, sondern die Kinder haben in ihrer festen Lerngruppe Ethik. In der momentanen Situation sicher akzeptabel und es „tröstet“ doch ein wenig, dass wesentliche Kernaussagen „der Ethik“ auf unsere jüdisch-christliche Tradition zurückgehen.
Am Wochenende zeigte mir die Tochter ein Arbeitsblatt aus dem gerade begonnenen Ethikunterricht. Darin ging es um den Begriff der Freiheit. Erklärt wurde er von Knietzsche, dem kleinsten Philosophen der Welt. Seit 2014 schon gibt es eine gleichnamige deutsche Zeichentrickserie, die den Kindern philosophische Fragestellungen näherbringen soll. Der Titel leitet sich aus dem Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900) und dem menschlichen Knie her, welches symbolisch für die Körpergröße des jungen Philosophen steht.
Auf dem Arbeitsblatt fand sich folgender, für neun- und zehnjährige, wie ich finde, durchaus anspruchsvoller Text:
„Die Freiheit hat genauso viel mit Fliegen zu tun wie ein Pinguin. Keiner muss abheben, um sich frei zu fühlen. Wenn man seine Flügel lieber zum Paddeln benutzt, als zum Fliegen muss man damit leben. Entweder oder, beides geht nicht. Freiheit ist meistens ein Tauschgeschäft und funktioniert immer nach dem Pinguin-Prinzip. Wir müssen uns entscheiden und dann die Verantwortung dafür tragen.“
Passend dazu zum Abschluss dieser Kolumne ein Zitat von George Bernard Shaw (1856-1950), dem irischen Dramatiker, der 1925 den Nobelpreis für Literatur erhielt: „Freiheit bedeutet Verantwortlichkeit; das ist der Grund, weshalb die meisten Menschen sich vor ihr fürchten.“
Wir alle möchten in Freiheit leben. Übernehmen wir dafür dann auch die Verantwortung. Davor brauchen wir uns nicht fürchten, wir müssen „nur“ bereit sein, immer wieder Entscheidungen zu treffen.
Thomas Groll
Bürgermeister