„Glaube nicht alles, was Du hörst. Sage nicht alles, was Du willst. Tue nicht alles, was Du magst.“
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
„Die Gewohnheit ist ein Seil. Wir weben jeden Tag einen Faden und schließlich können wir es nicht mehr zerreißen.“ Diese Sätze stammen von Horace Mann (1796-1859), einem amerikanischen Politiker des 19. Jahrhunderts, der als „Vater der öffentlichen Bildung“ in den USA gilt.
Was würde dieser berühmte Pädagoge wohl sagen, wenn er sähe, wie der heutige Präsident die Vereinigten Staaten von Amerika regiert? Wie gedankenlos er agiert und die stetig steigenden Opferzahlen der Corona-Pandemie in seinem Land bagatellisiert? Über die Äußerungen Donald Trumps – ich wiederhole mich - kann man, egal zu welchem Thema er sich äußert, doch nur den Kopf schütteln und auf die Klugheit der amerikanischen Wähler am 3. November 2020 hoffen. Dass ein Mann wie Trump überhaupt in das höchste Staatsamt gelangen kann, sagt aber auch viel über den aktuellen Zustand der USA und das dortige politische System aus.
Gewohnheiten bestimmen unser Leben. Es sind Handlungen, die wir nach einer Zeit ganz automatisch durchführen, viele davon sogar täglich. (Gute) Gewohnheiten sind eine praktische Angelegenheit. Vermutlich können Sie sich nicht mehr erinnern, was Sie genau in welcher Reihenfolge erledigt haben, als sie das letzte Mal ihre Zähne geputzt, die Wäsche in die Maschine getan, Schuhe angezogen oder ihr Auto abgestellt haben.
Unser Gehirn ist schon ein toller Manager. Alles, was wir oft genug gemacht haben, hat die Tendenz, dass es automatisiert wird. Ist ein gewohnheitsmäßiges Verhalten erst einmal in Gang gesetzt, läuft es präzise ab wie ein Uhrwerk. Wir müssen uns darüber keine Gedanken mehr machen und haben den Kopf frei für andere Dinge.
Ich erlebe dies oft morgens gegen 6 Uhr beim Zähneputzen. In diesen knapp drei Minuten kommen mir immer wieder Fragen und Anregungen für den vor mir liegenden Arbeitstag in den Sinn, die ich dann kurze Zeit später per Mail ins Rathaus zu den Mitarbeitenden sende, um sie nicht gleich wieder zu vergessen. „Vergessen“, so hat der erste Bundespräsident Theodor Heuß (1884-1963) übrigens einmal gesagt, „ist Gefahr und Gnade zugleich.“ Es lohnt sich, einmal näher über das Zitat von „Papa Heuß“, der diesen Spitznamen wegen seiner mitfühlenden, großväterlichen Art trug, nachzudenken. Wenn eine Erinnerung uns permanent nur schadet, wenn sie immer wieder für Streit und Zwietracht sorgt, dann kann Vergessen der bessere Weg sein. Loslassen, abhaken, vergessen – so könnte man es prägnant auf den Punkt bringen. Allerding muss man natürlich aufpassen, dass der Klügere nicht immer nachgibt, denn dann regieren irgendwann die Dummen die Welt… Sie denken hier bitte an das Thema der letzten Woche, die goldene Mitte.
Mit bald fünfzig Jahren ist leider der Hang zur Vergesslichkeit auch bei mir schon vorhanden und wenn ich ein paar Stichworte schnell auf einen Zettel schreibe, besteht durchaus die Gefahr, dass ich nachher nicht mehr alles davon selbst entziffern kann und Hilfe brauche. Dies ist leider nicht immer von Erfolg gekrönt. Dann doch lieber schnell das Smartphone genutzt und eine kurze Nachricht abgesetzt.
Zur Gewohnheit ist mir inzwischen auch das Abfassen dieser Kolumne geworden. Im Laufe der Woche sammele ich erste Ideen sowie Zitate hierfür und zumeist am Freitag sitze ich dann abends im Erkerzimmer und beginne damit, daraus einen „runden“ Text entstehen zu lassen. Manchmal geht das schnell, manchmal ist es ein langwieriger Prozess, manchmal möchte man schon aufgeben, bis dann doch noch ein rettender Gedanke kommt.
Zu dieser sicher auch Ihnen bekannten Situation fand ich übrigens ein treffendes Zitat eines unbekannten Verfassers: „Aufgeben kann jeder, da es sehr einfach ist. Doch wirklich aufgeben tut nur der Pessimist! Du aber bist Optimist, der schneller als er schaut am Ziele ist.“ Ein wie ich finde Mut machendes Motto für die vor uns liegende Zeit.
Ob Sie es glauben oder nicht: wenn ich mit dem Schreiben beginne, weiß ich weder wie lange der Brief wird, noch was genau in ihm stehen wird. Der Text entwickelt sich quasi beim Schreiben weiter. Gut, dass es heute Computer gibt, dadurch kann man immer wieder kurzentschlossen Veränderungen vornehmen, ohne die bereits beschriebenen Blätter zerknüllen zu müssen. Anfang der 1990er Jahre beim Schreiben der ersten juristischen Hausarbeiten mit der elektrischen Schreibmaschine war das noch anders und der Verbrauch an Papier entsprechend hoch.
Manchmal wird man beim Abfassen von Texten aber auch einfach abgelenkt. Sie kennen das sicher. Als ich gegen 21.30 Uhr aus dem Fenster schaute, fühlte ich mich an Alfred Hitchcocks Film „Die Vögel“ aus dem Jahre 1963, den Klassiker des Horrorfilms erinnert. Innerhalb von wenigen Minuten flogen hunderte von Tieren um die Büsche im Garten herum. Was war das? Ein Ruf nach oben. Die Damen vom Fernseher weggeholt, wo gerade „Ninja Warrior Germany“ – früher haben wir das weniger hochtrabend „Spiel ohne Grenzen“ genannt – lief, geschaut und dann schnell gegoogelt. Es waren Gerippte Brachkäfer, besser bekannt als „Junikäfer“. In großen Schwärmen fliegen sie in der Dämmerung warmer Nächte für etwa eine Stunde umher und „verschwinden“ dann wieder. 2/3 der Tiere sind männlich und die Weibchen legen Ende Juli etwa 35 Eier in den Boden. Nach drei Jahren werden aus den Larven Käfer und in dieser Zeit können sie den Rasen schwer geschädigt haben.
Leonie beschäftigte sich im Sachkundeunterricht kürzlich mit Hund, Katze und Meerschweinchen und Mama und Papa haben jetzt etwas über Insekten gelernt. Als ich von den „Spätfolgen“ der Käfer las, da kam mir allerdings das „St. Florians-Prinzip“ in den Sinn. Sorry, liebe Nachbarn, aber ich hoffe sehr, dass die etwa 15 mm langen Wesen unseren Garten zukünftig nicht mehr ansteuern. Am Samstagabend waren es zumindest nicht mehr so viele …
Auch Sprichwörter, Redensarten oder bestimmte Begriffe werden im Laufe der Jahre zur Gewohnheit und wir verwenden sie gerne, ohne näher darüber nachzudenken. Wir haben also schon mal sprichwörtlich „ein Brett vor dem Kopf“, „Tomaten auf den Augen“ oder sind „auf dem Holzweg“. Wenn wir ein Unglück gerade noch abwenden können, sind wir „aus dem Schneider“, läuft trotzdem einmal etwas schief, geht es halt „in die Binsen“. Und manchmal kaufen wir sogar „die Katze im Sack“. Sprichwörter und Redensarten sind in aller Munde und zudem gute Stilmittel, um einen Text zu gestalten. Wo aber kommen diese Redewendungen (oder Begriffe) eigentlich her?
Nennen wir als Beispiel einmal die „Gretchenfrage“. Sie haben sicher schon einmal davon gehört.
Dieser Begriff steht für eine Frage, die dem Befragten direkt und in der Regel unvermittelt gestellt wird. Sie hat dabei stets einen Inhalt, dessen Preisgabe dem Befragten unangenehm ist. Der Ausdruck geht auf Johann Wolfgang von Goethes Meisterwerk, die 1808 veröffentlichte Tragödie „Faust“, zurück und bezeichnet ein Gespräch zwischen Gretchen, dem frommen, tugendhaften und etwas naiven Bauernmädchen, und Faust, dem mit sich und der Welt unzufriedenen Gelehrten, der das Bauernmädchen verführt und letztlich zugrunde richtet. In Vers 3415 fragt sie ihn nach einem vorhergehenden Wortwechsel „Nun sag, wie hast du`s mit der Religion?“. Faust weicht der Frage aus gutem Grunde immer wieder aus und Gretchen hat aufgrund seines Paktes mit dem Teufel den wunden Punkt des Akademikers gefunden.
Die Frage „Nun sag, wie hast Du`s mit der Religion“ kam mir in den Sinn, als dieser Tage in den Nachrichten über die hohe Zahl der Kirchenaustritte 2019 berichtet wurde. Im vergangen Jahr verließen 500.000 (!) Deutsche die katholische und evangelische Kirche. Noch gehören in unserem Land 44 Mio. Menschen den beiden großen christlichen Kirchen an. 2060 sollen es dann nur noch 22 Mio. sein. Das wäre gerade einmal etwas mehr als ein Viertel der Einwohner.
In der Präambel unseres Grundgesetzes haben die „Mütter und Väter der Verfassung“ nach dem unfassbaren Geschehen im NS-Staat bewusst einen Gottesbezug hergestellt. Heute wenden sich aber immer mehr Menschen in Deutschland von den Kirchen und damit letztlich auch von Gott ab.
Unsere Vorfahren haben über die Jahrhunderte hinweg beeindruckende Sakralbauten wie die Dome in Köln, Fulda oder Passau geschaffen, heute sind diese nur gefüllt, wenn Touristen kommen.
Christliches Gedankengut hat die Entwicklung dieses Landes geprägt, einst waren die Klöster Ausgangspunkt der Bildung und auch die Reformation hatte erheblichen Einfluss auf die politische Entwicklung. Denken wir nur an den Ausspruch „cuius regio, eius religio“ – „Wessen Land, dessen Religion“.
Alles rückläufig und irgendwann passé …
Die Gründe dafür sind sicherlich vielschichtig und müssen an anderer Stelle diskutiert werden. Nur einen Punkt will ich heute anführen: aus meiner Sicht fehlen beiden Kirchen meinungsstarke Männer und natürlich auch Frauen, die ihre Stimme erheben und Positionen besetzen. Die dorthin gehen, wo heute Meinung gemacht wird – in die Talkshows und die Redaktionssäle der Boulevardpresse.
Man kann über so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Joachim Kardinal Meisner, Erzbischof Johannes Dyba oder die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Margot Käßmann sicherlich geteilter Meinung sein, eines aber eint alle drei: sie haben den Mund aufgemacht, Themen besetzt und so Profil für ihre Kirche gewonnen. Just in diesen Tagen erschien übrigens die Autobiografie des 2017 verstorbenen Kölner Erzbischofs Meisner, die den zum Thema passenden Titel „Wer sich anpasst, kann einpacken“ trägt.
Ein Mann klarer Worte war übrigens auch der Jesuitenpater Johannes Leppich (1915-1992). Dem wortgewaltigen Prediger gelang es, in den 1950er und 60er Jahren jeweils bis zu 40.000 Menschen mit seinen Veranstaltungen anzusprechen, und damit Millionen zu erreichen. Leppich war seinerzeit keinesfalls unumstritten, dass „Maschinengewehr Gottes“ stand bei seinen Ansprachen auf dem Dach eines VW-Kombis oder der Ladefläche eines Lkw`s und legte einfach los. Er gehörte zu den Gründern der Telefonseelsorge und gab auch die Anregung, Bibeln in die Hotelzimmer zu legen. Vor vielleicht fünfunddreißig Jahren fand ich beim Aufräumen ein Buch von ihm und meine Mutter erzählte dann, dass sie Pater Leppich Ende der 1960er Jahre in Stadtallendorf erlebt habe. Hören Sie sich einfach einmal eine seiner Predigten bei youtube.de an. Sicher, manches wirkt heute seltsam auf uns, aber der Kern seiner Aussagen ist zeitlos. Was ja auch für die Bibel zutrifft.
In der Corona-Zeit gab es viele gute Ideen. Eine davon stammt von Thomas Latzel. Der Leiter der evangelischen Akademie in Frankfurt a.M. hat die 10 Gebote auf die aktuelle Situation umgeschrieben:
- Du sollst deine Mitmenschen lieben, komm` ihnen aber deswegen nicht zu nahe und übe dich in liebevoller Distanz.
- Du sollst nicht horten – weder Klopapier noch Nudeln und schon gar keine Desinfektionsmittel.
- Die Pandemie sollte das Beste aus dem machen, was in dir steckt: einen engagierten, solidarischen Mitmenschen.
- Du solltest ruhig auf manches verzichten, dafür gewinnst Du andere Freiheit hinzu.
- Du solltest keine Panik verbreiten. Panik ist nie ein guter Ratgeber, zu keiner Zeit. Gesunder Menschenverstand und Humor dagegen schon.
- Du solltest von „den Alten“ lernen. In früheren Zeiten von Seuchen halfen den Menschen vor allem ein gesundes Gottvertrauen und die tätige Fürsorge füreinander.
- Sei der Mensch für andere, den Du selbst gern um dich hättest.
- Du solltest anderen beistehen, die deine Hilfe brauchen. Das hilft nicht nur ihnen, sondern macht dich auch selbst frei.
- Du solltest kreativ und aktiv mit der Pandemie umgehen. Sie kann Positives aus dir und anderen herausholen.
- Du solltest keine Angst vor Stille und Ruhe haben. Wenn die Quarantäne zum Umdenken führt, wäre das ein „sekundärer Krankheitsgewinn“.
Ich finde die „10 Gebote für die Corona-Zeit“ sehr gelungen. Wir sollten diese Worte heute beherzigen, aber sie auch mitnehmen in eine sicherlich kommende Corona-freie Zeit.
Zum Thema „10 Gebote“ fand ich übrigens zwei bedenkenswerte Zitate. Das erste stammt von Konrad Adenauer (1876-1967), dem Gründungskanzler der Bundesrepublik: „Die zehn Gebote sind deshalb so eindeutig, weil sie nicht erst auf einer Konferenz beschlossen wurden.“ Das andere vom Schriftsteller Eberhard Blank: „Gott reichten die zehn Gebote. Erst der Staat machte tausende von Paragrafen und Bestimmungen daraus.“ Alle, die auf den unterschiedlichen staatlichen Ebenen – natürlich auch wir in der Kommune - Verantwortung tragen, sollten sich einmal kritisch hinterfragen. Ist wirklich alles was wir niederschreiben und verordnen nötig oder geht es kürzer und pragmatischer?
Einer, der von gewohnten Pfaden Abschied nahm, war Martin Luther (1483-1546), der Augustinermönch und Theologieprofessor. Er wurde bekanntermaßen zum Reformator und hat sicher des Öfteren auch über die zehn Gebote gepredigt.
Von ihm stammt der Ausspruch „Glaube nicht alles, was Du hörst. Sage nicht alles, was Du willst. Tue nicht alles, was Du magst.“ In meinen Augen ein gutes Leitwort – nicht nur - für diese besondere Zeit. Bleiben wir bei Nachrichten kritisch und hinterfragen deren Inhalt. Überlegen wir erst einmal, bevor wir reden, sind wir manchmal diplomatisch. Das kann Ärger ersparen. Denken wir daran, dass unser Handeln Auswirkungen haben kann, auf uns und andere.
Als ich den Text für heute beenden wollte, lese ich gerade, dass es den ersten Corona-Fall am Timmendorfer Strand gibt. Dies führt mir und uns allen vor Augen, dass das Virus eben keinen Urlaub macht.
Bleiben Sie gesund!
Thomas Groll
Bürgermeister