Die goldene Mitte gilt es zu wählen.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
„Man muss lernen, was zu lernen ist und dann seinen eigenen Weg finden“, dieses Wort stammt vom Komponisten Georg Friedrich Händel (1685-1759), einem der bedeutendsten Musiker der Geschichte. Sein Hauptwerk umfasst zweiundvierzig Opern und fünfundzwanzig Oratorien (ein opernartiges Musikwerk, allerdings ohne szenische Handlung). Das „Halleluja“ aus Händels „Messias“ klingt sicherlich vielen von Ihnen ebenso im Ohr wie der Trauermarsch aus seinem Oratorium „Saul“, den das Stabsmusikcorps der Bundeswehr regelmäßig bei Staatsbegräbnissen intoniert.
Dieses Zitat des in Halle (Saale) geborenen und in London verstorbenen musikalischen Genies möchte man allen Schülerinnen und Schülern, die in diesen Tagen die Schule verlassen und nun eine Ausbildung beginnen, auf eine weiterführende Schule wechseln oder zukünftig eine Universität besuchen, mit auf ihren weiteren Lebensweg geben. Aus eigenem Erleben weiß ich um die Berechtigung dieses Satzes.
Im Juni konnte ich wie einige andere Neustädter auch auf „30 Jahre Abitur“ an der damaligen Gesamtschule Kirchhain zurückblicken. Kaum zu fassen, wie schnell die Zeit vergeht. Dieses Thema hatte ich ja schon in einer früheren Folge dieser Kolumne behandelt. Übrigens ist es inzwischen keine bloße Vermutung mehr, sondern ein wissenschaftlich erwiesener Fakt, dass sich das Zeitgefühl im Alter ändert. Forscher haben sich dieser Frage in verschiedenen Studien angenommen und kamen einheitlich – wie sehr wünschte man sich eine solche Meinungsgleichheit der Wissenschaftler einmal beim Corona-Virus - zu dem Ergebnis, dass die empfundene Zeit mit steigendem Alter schneller vergeht.
Meine Lieblingsfächer in der Oberstufe waren Geschichte, Gemeinschaftskunde und Deutsch. Wir befassten uns seinerzeit mit der Entwicklung „Deutschlands“ vom Mittelalter hin zur Reichsgründung 1871 und dem späteren Untergang des Kaiserreiches 1918, dem Ost-West-Konflikt nach dem II. Weltkrieg und dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ in Europa 1989 und lasen u. a. Anna Seghers „Das siebte Kreuz“. Eine gewinnbringende Zeit, an die ich gerne zurückdenke.
Aus der Geschichte könnten wir so viel für die Gegenwart lernen, wir müssten es nur wollen. Aber leider hat wohl die ermordete indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi (1917-1984) recht, die einmal sagte „Die Geschichte ist der beste Lehrer, allerdings mit den unaufmerksamsten Schülern“.
1990 war ohnehin ein ereignisreiches Jahr für uns Deutsche.
Die Nationalmannschaft wurde in Rom zum dritten Mal Fußball-Weltmeister. Andreas Brehme verwandelte im Endspiel gegen Argentinien einen Elfmeter zum 1:0-Siegtreffer. Damals gab es noch kein Public-Viewing und keine Fanmeilen. Wir schauten das Endspiel gemeinsam in einer Gartenhütte und fuhren dann am nächsten Tag zu dritt nach Frankfurt auf den Römerberg. Zusammen mit 20.000 Menschen jubelten wir dort „Kaiser“ Franz, Rudi Völler, Lothar Matthäus und den anderen WM-Helden zu. Ein unvergessliches Erlebnis. Das seinerzeit rasch in einem Kaufhaus auf der Zeil erworbene Sieger-T-Shirt liegt übrigens heute noch bei mir im Schrank. Von manchen Dingen trennt man sich halt nicht.
Vor dreißig Jahren, am 3.Oktober 1990, vollendete sich zudem die staatliche Einheit unseres Landes nach fünfundvierzig Jahren der Teilung infolge des II. Weltkriegs. Die Bilder um Mitternacht aus Berlin und das Läuten der Freiheitsglocke im Schöneberger Rathaus haben sicherlich nicht nur in meinem Gedächtnis einen festen Platz. Wir alle waren damals live bei einem epochalen Ereignis dabei. Der einst zur Erinnerung an die geteilte deutsche Hauptstadt Berlin auf dem Rathausplatz aufgestellte schlichte Gedenkstein („Berlin 472 km“) wird übrigens auch nach dessen Umgestaltung dort seinen Platz finden, denn, so der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl (1930-2017), „Wer die Geschichte nicht kennt, kann die Vergangenheit nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“
1990 feierte aber auch ein deutscher Entertainer, Schauspieler und Sänger wieder einmal ein gelungenes Comeback, nachdem er einen seiner vielen Alkoholexzesse (scheinbar) überwunden hatte: Harald Juhnke (1929-2005).
Der gebürtige Berliner gehörte trotz seiner Eskapaden zu den ganz Großen seines Faches. Im Smoking und mit Fliege erreichte er mit „Musik ist Trumpf“ 30 Millionen TV-Zuschauer am Samstagabend. Mit „Berliner Schnauze“ sorgte Harald Juhnke in Serien wie „Das verrückte Paar“ und „Harald und Eddie“ für herzhaftes Lachen. Er war – was manchen gar nicht so bewusst ist – nicht nur „der“ Berliner Volksschauspieler neben Günter Pfitzmann, sondern auch ein überzeugender Filmschauspieler und Charakterdarsteller u.a. in Carl Zuckmayers Drama „Der Hauptmann von Köpenick“ oder in der Verfilmung von Hans Falladas „Der Trinker“, hier dann durchaus mit Bezügen zu seinem eigenen Leben. Gerne bezeichnete sich Harald Juhnke, dem 2005 über tausend Menschen vor der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche „Adieu“ sagten, als „der deutsche Frank Sinatra“. Thomas Gottschalk hielt damals eine Trauerrede und bezeichnete den Verstorbenen als einen Helden der kleinen Leute. Er verwies weiterhin darauf, dass der liebe Gott Anfang April 2005 innerhalb einer Woche drei Große ihres Faches zu sich geholt habe: Papst Johannes Paul II., Fürst Rainier III. von Monaco und eben Harald Juhnke.
Zu dessen bekanntesten Songs zählten eine Version von Frankie-Boys Welterfolg „My Way“ und „Barfuß oder Lackschuh“.
In diesem Lied, dass Juhnke erstmals 1989 sang heißt es u.a. „Barfuß oder Lackschuh, so geht’s bei mir zu! Nie die goldene Mitte, immer volles Risiko.“ Ein eingängiger Refrain, der das Leben dieses Mannes kurz, prägnant und zutreffend zusammenfasst.
„…immer volles Risiko“, so hat Harald Juhnke gelebt und im Alter den Tribut dafür bezahlen müssen. Vom österreichischen Komponisten und Autor Markus Keimel stammt der zutreffende Ausspruch „Ein Mangel an Risikobereitschaft ist ein Übermaß an Vernunft“. Beispiele aus den unterschiedlichsten Bereichen des Sportes belegen, dass diese These grundsätzlich richtig ist.
Ein Boxer wie Henry Maske verstand es, im Ring stets geschickt zwischen Angriff und Verteidigung zu wählen und schlug nicht einfach drauf los. Zumindest während seiner Zeit bei Ferrari überlegte sich Formel 1-As Michael Schumacher stets klug die Taktik für seine Rennen und überholte nicht ohne Sinn und Verstand. Fußballtrainer Otto Rehhagel hat von seinen Mannschaften immer „kontrollierte Offensive“ spielen lassen. Diese Taktik verschaffte Werder Bremen Erfolge, von denen man heute an der Weser nur träumen kann, und führte Griechenland 2004 überraschend zum EM-Titel.
„…immer volles Risiko“, nach diesem Motto kann man aber auch kein Land regieren und auch nicht als Bürgermeister einer Kommune agieren. Vereinzelt kann man zwar nach dem Bauchgefühl entscheiden, muss es manchmal vielleicht sogar, aber langfristig sollte man abwägen und einer Strategie folgen.
Erfolgsversprechend erscheint mir in diesem Zusammenhang ein Gedankengang des griechischen Universalgelehrten Aristoteles (385-323 v. Chr.) zu sein, der als Richtschnur für das menschliche Handeln den Weg der goldenen Mitte präferierte.
Er geht dabei davon aus, dass alles, was irgendwie einen Wert darstellt, seiner Natur nach durch ein Zuviel oder Zuwenig zerstört werden kann. Aristoteles untermauert seine These an der Kraft und an der Gesundheit. Die Körperstärke wird durch ein Zuviel an Sport genauso geschädigt wie durch ein Zuwenig. Ein Übermaß an Speise und Trank – siehe Harald Juhnke – richtet die Gesundheit ebenso zugrunde wie Unterernährung, während ein richtiges Maß sie erzeugt, steigert und erhält.
Dasselbe ist laut dem klugen Griechen der Fall bei der Besonnenheit, der Tapferkeit und den übrigen Wesensvorzügen des Menschen. Wer vor allem davonläuft und sich fürchtet, wird zum Feigling. Wer vor nichts Angst hat und auf alles losgeht, der wird ein sinnloser Draufgänger. Richtig sei, wenn der Mensch stets der rechten, der goldenen Mitte folge.
Auch nach fast vier Monaten der Corona-Pandemie bleibe ich dabei, dass die Verantwortlichen in unserem Land bei ihren Entscheidungen im März und April diesen Jahres den Weg der goldenen Mitte gewählt haben.
Nachdenken, abwägen und handeln und nicht wie die bekannten drei Affen aus Japan „nichts sehen, nichts hören und nichts sagen“, so wurde bei uns vorgegangen. Ein Weg der goldenen Mitte, ein Weg des Erfolges. Bisher jedenfalls, denn auch zukünftig muss es heißen: Miteinander und nicht gegeneinander; vor allem aber mit Vernunft.
Wenn ich am letzten Wochenende die Bilder voller Strände an Ost- und Nordsee sah, dann kamen mir in diesem Punkt allerdings leise Zweifel. Denn das erscheint mir dann doch schon wieder etwas zu viel der Normalität zu sein. Ich gönne jedem seinen Urlaub, aber Gütersloh, Kassel, Göttingen … zeigen doch, dass Corona immer noch da ist und wir nach wie vor überlegt handeln müssen.
Dass unser Weg bisher der richtige war, belegen doch eindrucksvoll die Zahlen.
Schweden hat sich für einen lockeren Kurs im Umgang mit der Corona-Pandemie entschieden. Nun verzeichnet man bei etwas über 10 Mio. Einwohner 63.000 Fälle und mit 5.300 Toten die weltweit höchste Sterblichkeitsrate bezogen auf 100.000 Einwohner. Rechnen Sie dies einmal auf Deutschland hoch: 504.000 Fälle und 42.400 Tote wären das Ergebnis. Davon sind wir Gott sei Dank meilenweit entfernt!
In den USA hat sich zumindest der Präsident für gar keinen Kurs entschieden und scheint Corona immer noch als Bagatelle anzusehen. Wie twitterte er doch kürzlich in fast nicht zu überbietender Dummheit: „Wir müssen einfach weniger testen, dann haben wir auch weniger Fälle.“ Die offizielle Statistik weist derzeit über 2,5 Mio. Fälle und 125.000 Todesopfer aus.
Otto von Bismarck (1815-1898), der „Eiserne Kanzler“ Preußens und des wilhelminischen Kaiserreiches, hat einmal gesagt, dass „die Scheu vor der Verantwortung eine Krankheit unserer Zeit sei“. Diese über einhundert Jahre alten Worte treffen leider auch heute noch zu.
Die politisch Verantwortlichen in Deutschland hatten zu Beginn der Corona-Pandemie Mut zur Verantwortung und damit auch Mut zu unpopulären Entscheidungen, deren wirtschaftliche Auswirkungen uns leider noch länger begleiten werden. Wir haben aber dadurch einen vielleicht entscheidenden Vorsprung gegenüber dem Virus gewonnen, den dürfen wir nun aber nicht verspielen. Hier sind wir alle gefordert, den von Aristoteles angemahnten Weg der goldenen Mitte zu gehen. Wir müssen unser Handeln hinterfragen und abwägen, was wir tun. Übertreiben ist dabei ebenso falsch wie Unterlassen, die goldene Mitte macht es auch hier aus.
Jemand, der augenscheinlich klug abwägt und damit Erfolg hat, ist Hans-Dieter Flick. In seiner aktiven Zeit ein guter, aber kein überragender Fußballer. 2014 war er als Co-Trainer entscheidend am Weltmeistertitel unserer Fußballer in Brasilien beteiligt, stand aber naturgemäß im Schatten von Joachim Löw. Nun trägt er seit November 2019 als Cheftrainer Verantwortung für den FC Bayern München und dies bisher mit großem Erfolg und es könnten ja in dieser besonderen Saison noch zwei weitere Titel dazukommen.
„Hansi“ Flick ist aber nicht nur ein sehr guter Trainer, sondern auch ein kluger Mann. Als er kürzlich gefragt wurde, was ihm im Miteinander besonders wichtig sei, nannte er an vorderster Stelle Wertschätzung.
Zu Wertschätzung und Anerkennung findet man übrigens unzählige Zitate. Robert Lembke (1913-1989), Journalist und Moderator von „Was bin ich“, sagte hierzu einmal „Wertschätzung ist eine Pflanze, die oft nur auf Gräbern wächst“ und vom niederländischen Maler Vincent van Gogh (1853-1890), der verarmt starb und dessen Gemälde heute Höchstpreise erzielen, stammt der bittere Satz „Ich kann nichts dafür, dass meine Bilder sich nicht verkaufen lassen. Aber es wird die Zeit kommen, da die Menschen erkennen werden, dass sie mehr Wert sind als das Geld für die Farbe“.
Wertschätzung spielt in allen Bereichen des Lebens eine Rolle.
Die momentanen Geschehnisse in den Großschlachtereien sind – um mit dem „Stern“ zu sprechen - zweifellos eine Sauerei. Zu Recht wird das Verhalten der Verantwortlichen massiv kritisiert. Aber sind wir einmal selbstkritisch: Tragen wir nicht alle zumindest eine kleine Mitschuld daran?
Ich kann mich noch daran erinnern, dass es in den 1980er Jahren in Neustadts Innenstadt fünf Metzgereien – Hoffmann, Schlein, Tittl, Reichenbach und Kaiser – gab, heute ist dort keine einzige mehr. Es muss beim Einkauf schnell geben und sollte billig sein. Herkunft und Herstellung spielt dabei eine völlig untergeordnete Rolle. Bei meiner Tätigkeit als Geschäftsführer des Regionalbauernverbandes Wetterau-Frankfurt a.M. hatte ich es 2001 mit der BSE-Krise zu tun. Auch damals war der Aufschrei groß, jeder verlangte auf einmal nach regional erzeugtem und vor Ort geschlachtetem Rindfleisch. Aber nach zwei Monaten war dann davon nichts mehr zu spüren…
Wir sollten auch hier die Corona-Pandemie für ein Umdenken nutzen. Gerne würde ich auf dem Markt- oder Rathausplatz einen Wochenmarkt etablieren bzw. in Speckswinkel ein leerstehendes Gebäude für den Verkauf von regionalen Lebensmitteln nutzen. Aber gibt es dafür auch genügend Nachfrage? Zu Beginn meiner Amtszeit hatten wir zwei Jahre lang von April-September einen monatlichen Markt auf dem Marktplatz, leider ließ das Interesse daran stetig nach. Wollen wir es vielleicht doch noch einmal versuchen?
Wertschätzung verdienen im Übrigen auch die Polizei, die Freiwilligen Feuerwehren und alle Hilfsorganisationen für ihre Arbeit. Wer, wie bei den Gewaltexzessen in Stuttgart geschehen, fremdes Eigentum zerstört und Polizisten angreift, der stellt sich außerhalb unserer Gesellschaft. Solche Gewalttäter müssen die Konsequenzen staatlichen Handelns spüren.
Am vergangen Samstag war ich gemeinsam mit etwa siebzig anderen Gläubigen bei der Forstkapelle. Das Kleinod im Herrenwald feiert in diesen Tagen seinen 125-jährgen Weihetag und wir brachten dem Tun der Ahnen ebenso Wertschätzung entgegen wie der Arbeit der Kolpingfamilie, die sich um diesen Ort kümmert. Leider fällt das umfangreiche Programm des Jubiläumsjahres auch Corona zum Opfer. Am Ende des Gottesdienstes zur „Forstkirmes“ erhielten wir alle einen kleinen Schlüssel als Erinnerung. Eine schöne Geste. Vom österreichischen Schriftsteller Ernst Ferstl stammt der Satz „Offenheit ist ein Schlüssel, der viele Türen öffnen kann“. Seien wir also gerade in dieser Zeit, aber nicht nur dann, offen für Neues. Denn wie heißt es doch so schön: „Wer nicht mit Zeit geht, der geht mit der Zeit“. Aber auch hier gilt natürlich: Wählen wir den Weg der goldenen Mitte. Wer verändern will, der muss dies auch den Menschen erklären und sie „mitnehmen“, dies gilt in der großen Politik wie auch im kleinen Neustadt.
Bleiben Sie gesund.
Thomas Groll
Bürgermeister