Richtig oder falsch?
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
Samstagabend, 21.50 Uhr. Plötzlich ertönt ein triumphales „Es ist vollbracht!“. Nein, es ist keine Probe für ein gegenwärtig ohnehin abzusagendes Passionsspiel, sondern Leonie präsentiert uns ihren mit Erfolg „gezogenen“ neunten Milchzahn. Pocher und Jauch begeistern nur mäßig. Zeit also, mit dem Entwurf meines wöchentlichen Briefes an Sie zu beginnen und die in den letzten Tagen entwickelten Gedanken ein wenig in Struktur zu bringen, denn bei der täglichen Arbeit im Rathaus komme ich kaum dazu. Schließlich gilt es dort, gemeinsam mit den Mitarbeitenden aktuell Bauprojekte mit einem Volumen von über 12,5 Mio. Euro voran zu bringen und Weichenstellungen für die kommenden Jahre vorzunehmen. Dies wird vor dem Hintergrund deutlich zurückgehender finanzieller Mittel nicht einfach, aber für mich ist klar, es darf keinen Stillstand geben. Es muss auch zukünftig in unserer Kommune vorwärts gehen, eben nur in kleineren Schritten, als noch vor einem halben Jahr geplant. Aber nun zum Text …
Heidelberg gehört zu den beliebtesten Tourismuszielen in Deutschland. Alljährlich finden rund 800.000 Menschen den Weg in die Stadt am Neckar und die meisten genießen bei ihrer Visite den Blick von der Ruine des Schlosses. Viele von Ihnen werden sicherlich auch schon einmal dort gewesen sein. Direkt gegenüber dem Heidelberger Wahrzeichen, auf der anderen Seite des Flusses, liegt der etwa zwei Kilometer lange Philosophenweg. Seine Bezeichnung verdankt er den Studenten, die den Weg - wie man in den Reiseführern nachlesen kann - schon früh als idealen Ort für Spaziergänge und ungestörte Zweisamkeit entdeckten. Mancher der jungen Herren, Frauen wurden im Großherzogtum Baden erst 1900 offiziell an den Universitäten zugelassen, wird dort auch trefflich philosophiert haben.
Philosophie ist, anders als uns der Volksmund glauben machen will, bei weitem keine brotlose Kunst. Vielmehr gilt sie als die Mutter aller Wissenschaften und entstand vor über 2.500 Jahren. Im Laufe der Jahrhunderte befassten sich immer wieder Frauen und Männer mit Fragen, die sich mit Hilfe der exakten Wissenschaften nicht oder nur unzureichend beantworten lassen.
Die Fragen etwa nach dem, was gut und böse ist, was Gerechtigkeit bedeutet, ob es einen Gott gibt oder was der Sinn des Lebens ist. Auch die Frage, wer darüber entscheidet, ob etwas richtig oder falsch ist, gehört in diese Kategorie und wird seit den Tagen von Socrates, Platon und Aristoteles über Kant bis hinein in unsere Zeit immer wieder von den Philosophen behandelt.
In einigen Fällen, etwa bei Prüfungen, entscheidet letztlich der, der fragt. In anderen Fällen können es die Gesetze der Logik und Mathematik sein. Manchmal ist es „die Mehrheit“, die über richtig oder falsch entscheidet. Oftmals gibt auch nicht die Gegenwart die Antwort auf diese Frage, sondern erst die Zukunft.
… Nachdem ich diese Zeilen noch am Samstagabend im bewährten „Zweifingersuchsystem“ abgetippt habe, ist es nun Sonntag, 7.00 Uhr. Keine Zeitung im Briefkasten und noch totale Ruhe im Haus. Ich sitze wieder am Computer im Erkerzimmer, schaue auf unsere kleine Stadt und „philosophiere“. Denke darüber nach, was ich Ihnen in meinem wöchentlichen Brief mit auf den Weg geben könnte.
Dabei beschäftigt mich vor allem die Frage nach „richtig“ oder „falsch“. Eine Frage, die in diesen Tagen natürlich immer wieder gestellt werden muss.
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), der bedeutendste Schöpfer deutschsprachiger Dichtung, hat hierzu einmal etwas Treffendes geschrieben: „Entscheide lieber ungefähr richtig, als genau falsch.“
Mitte März beschlossen die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder aufgrund der Corona-Pandemie und den bitteren Erfahrungen u. a. in Italien erhebliche Einschränkungen unseres sozialen Lebens mit drastischen Folgen für die Volkswirtschaft. Beileibe aber kein deutscher Sonderweg. Weltweit, und insbesondere in vielen unserer Nachbarländer, kam es aufgrund des Virus zu deutlichen Eingriffen in die gewohnte Normalität der Menschen. Die Auswirkungen davon werden unser Land und seine Menschen über Jahre hinweg begleiten und auch bei uns vor Ort spürbar sein. Um diese bittere Tatsache brauchen wir nicht herumreden.
War das nun richtig oder falsch?
Viele von uns werden sicher darauf antworten, dass die Maßnahmen den explosiven Anstieg von Erkrankungen, die zu einem Kollaps unseres Gesundheitssystems hätten führen können, erfolgreich verhindert haben und daher zweifellos richtig waren.
Andere werden ihnen entgegenhalten, dass knapp 175.000 Infizierte und weniger als 8.000 Tote solche Einschnitte in unsere Grundrechte, Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und Milliardenverluste für die Unternehmen und damit letztlich den Staat und die Kommunen keinesfalls rechtfertigen.
Interessant übrigens, dass die große Mehrheit der Bevölkerung die erste Position teilt, während in diesen Tagen einige Intelektuelle und sogar Bischöfe über das Für und Wider der getroffenen Maßnahmen philosophieren und diese zum Teil hart kritisieren.
Nicht das wir uns falsch verstehen: Natürlich muss man in einer Demokratie Beschlüsse hinterfragen dürfen. Natürlich darf man auch anderer Auffassung sein. Aber wie hat der große Dichterfürst aus Frankfurt, der in Weimar wirkte, vor zweihundert Jahren auch gesagt „Alles mit Maß und Ziel“.
Wenn etwa ein Kardinal Müller nun schreibt, „dass die Corona-Pandemie zur Errichtung einer Weltregierung genutzt werde“, dann kann ich darüber nur den Kopf schütteln. Gut, dass Papst Franziskus ihn bereits vor Jahren als Präfekten der Glaubenskongregation abgesetzt hat. Solche Äußerungen haben für mich dasselbe Niveau wie die Behauptung, dass Bill Gates und seine Ehefrau hinter Corona stecken würden. Für mich sind das Verschwörungstheorien. Gedankengut, das im Laufe der Geschichte nie etwas Gutes brachte, sondern nur viel Unheil angerichtet hat.
Sicher, nicht alle Beschlüsse der Verantwortlichen haben die „10“ auf der Schießscheibe getroffen. Manches erscheint in der Nachschau durchaus auch widersprüchlich zu sein. Aber im Nachhinein Entscheidungen zu betrachten und darüber zu urteilen, ist doch recht einfach. Die Politik musste Mitte März unter Zeitdruck handeln und es gab kein Regiebuch für eine solche Lage. Unter Berücksichtigung dieser Punkte wurde meines Erachtens insgesamt gut gearbeitet.
Mir persönlich ist es lieber, dass ungefähr richtig, als genau falsch entschieden wurde. Es wurden durch entschlossenes Handeln viele Menschenleben gerettet, vergessen wir das nicht. …
9.00 Uhr. Zeit für eine Pause und anschließend eine kleine Fahrradtour mit der Tochter. Unser Weg führt uns auch zum Friedhof. Am Muttertag sollte man die Großmütter nicht vergessen, die uns schließlich auch ein Stück im Leben begleitet haben.
19.00 Uhr. „Lindenstraße“ läuft ja bekanntlich nicht mehr. Zeit, den Text fertig zu stellen und letzte Änderungen vorzunehmen.
… Am vergangenen Mittwoch haben die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder erneut über die Lage beraten und entschieden, dabei weitreichende Lockerungen auf den Weg zu bringen. Dass es hier bereits im Vorfeld einen „Überbietungswettbewerb“ der Länder gab, ist zwar eine eher unschöne Begleiterscheinung, aber für mich auch ein klein wenig verständlich. In Krisensituation will sich in der großen Politik halt jeder Verantwortliche gerne einmal als Macher profilieren und hofft darauf, dass dies bei den Bürgern (sprich Wählern) dann in so guter Erinnerung bleibt, wie Helmut Schmidts beherzter Einsatz bei der Sturmflut in seiner Heimatstadt Hamburg 1962, der ihn später zunächst ins Bundeskabinett und schließlich auch ins Kanzleramt brachte.
Ich will übrigens weder Kanzler werden, noch etwas anderes als Bürgermeister meiner Heimatstadt. Gleichwohl hoffe ich natürlich, dass Sie mit meiner Arbeit zufrieden sind.
Es wurden nun also Öffnungen in vielen Bereichen vorgenommen. Das gewohnte Leben kehrt etwa im sozialen, geschäftlichen, kirchlichen oder sportlichen Bereich in kleinen Schritten, aber immer noch mit Einschränkungen, zurück. Das ist wichtig, denn wir alle brauchen Perspektive.
Ich finde den beschrittenen Weg richtig, bin aber gleichwohl in Sorge. Warum?
Im Radio hörte ich am Sonntag, dass laut dem Robert-Koch-Institut die Ansteckungsrate wieder ansteige. Zugleich gab es Meldungen über Proteste am Samstag in zahlreichen größeren Städten. Dabei standen die Demonstranten oft nicht nur zu eng beisammen, sondern waren manchmal sogar gewalttätig. Grundtenor der Aktionen war, dass es sei jetzt aber einmal genug mit der Pandemie-Bekämpfung sei. Den Teilnehmern geht es mit dem Weg zurück in die Normalität viel zu langsam.
In diesen Kontext passt, dass mich in den letzten Tagen vermehrt ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger ansprechen. Im Gegensatz zu den Demonstranten sehen sie die vielen Lockerungen durchaus kritisch und meinen, dass inzwischen immer mehr Menschen sorglos mit der Situation umgehen und in den alten Trott verfallen. Leider scheinen sie recht zu haben. Ich habe es selbst auf dem Parkplatz des Einkaufsmarktes oder auf dem Schulhof gesehen. Wenn man dann das Gespräch sucht, erntet man vielfach nur ein müdes Lächeln. Auch das Tragen der „Alltagsmaske“ wird in Frage gestellt. Ja, darüber kann man kontrovers diskutieren, aber die Frage ist entschieden. Der Mundschutz soll uns übrigens nicht mundtot machen, wie ein Verschwörungstheoretiker schrieb, sondern die Ausbreitung des Virus ein klein wenig verlangsamen.
Als ich die „Bild am Sonntag“ lass, schluckte ich kurz: „Der Sommerurlaub ist gerettet. Mallorca rüstet sich für Touristen.“ Auch hier die Rückkehr in eine vermeintliche Normalität? Zu Hause sind wir uns einig: auf Rhodos und Antalya folgt 2020 „Terrassia“. Sind wir zu vorsichtig oder haben wir einfach nur Ischgl im Kopf? Ich habe Verständnis für die Fluglinien und die Tourismusbranche, aber manchmal bringt langsamer auf die Dauer mehr.
Katrin Göring-Eckardt, die Fraktionsvorsitzende der GRÜNEN im Deutschen Bundestag hat die gegenwärtige Situation aus meiner Sicht gut zusammengefasst. Im Nachrichtenmagazin „Focus“ schreibt sie: „Wir leben jetzt in einer sensiblen Phase der Pandemie. In den letzten Wochen hat die Gesellschaft bei der Bekämpfung des Corona-Virus zusammengehalten. Dies war der entscheidende Baustein für den Erfolg. Aber Vorsicht: Wir sind noch lange nicht am Ende der Krise und müssen lernen, damit zu leben. Die Situation darf uns nicht entgleiten. Fakten müssen das Handeln bestimmen. Bleiben wir vorsichtig und lernen, mit der Gefahr verantwortungsvoll umzugehen.“
Auch wenn es natürlich umfangreiche Vorgaben für unser Verhalten im Alltag gibt, muss jede(r) in zahllosen Situationen des Alltags für sich selbst über richtig oder falsch entscheiden. Man sollte dabei immer bedenken, dass die eigene Entscheidung auch Auswirkungen auf andere Menschen haben kann, auf Ältere, auf Kranke oder Gehandicapte. Ich stelle mir gerade vor, die Großmutter eines der Demonstranten vom Wochenende erkrankt schwer an Corona. Unbewusst übertragen im Spätsommer 2020 durch einen, sagen wir beispielhaft, „Malle“-Urlauber. Das Geschrei wäre groß. Der Staat hätte versagt. Ob sich der Demonstrant dann noch daran erinnert, dass er Anfang Mai, drei Monate vorher, „völlige Freiheit“ gefordert hat …
Leisten wir alle einen Beitrag dazu, dass der irische Schriftsteller Oscar Wilde (1854-1900) nicht doch recht behält, der einmal schrieb: „Der Mensch ist vieles, aber sicher nicht vernünftig.“
20.00 Uhr. Wie hat 1998 Bayern Münchens damaliger Trainer Giovanni Trappatoni gesagt: „Ich habe fertig.“
Bleiben Sie vernünftig – und gesund!
Thomas Groll
Bürgermeister