Pogromnacht 1938 - „Gang der Erinnerung“ durch Neustadts Altstadt
Über siebzig Personen waren der Einladung der Stadt Neustadt (Hessen) zum Gedenken an die Ereignisse der Pogromnacht 1938 gefolgt. Bürgermeister Thomas Groll hatte hierzu einen „Gang der Erinnerung“ vorbereitet, der am Marktplatz begann.
Der 9. November, so Groll, in seinen einleitenden Worten, sei ein „Schicksalstag der deutschen Nation“, gleichwohl tue man sich bis heute schwer mit diesem Datum.
Am 9. November 1918 endete der I. Weltkrieg und der Kaiser dankte ab. Am 9. November 1989 öffnete sich die Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang in Europa war gefallen. Am 9. November 1938 – in Neustadt und Momberg bereits einen Tag zuvor – wurden im nationalsozialistischen Deutschland die Synagogen planmäßig zerstört, viele sogar angesteckt.
Die Pogromnacht 1938 stelle den Übergang von Gewalt und Ausgrenzung der Juden hin zur systematischen Verfolgung und schließlich dem Holocaust dar, stellte der Bürgermeister heraus. „Wir müssen heute das klare Bekenntnis ablegen, dass es weder Hass noch Gewalt gegenüber Menschen geben darf. Keiner darf wegen seiner Herkunft oder seines Glaubens verfolgt werden“, betonte Groll vor dem Hintergrund des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland. „Wir müssen unsere Stimme erheben, wenn es wieder zu Ausgrenzung und Verfolgung kommt. Dies muss die Lehre aus den unfassbaren Geschehnissen im III. Reich sein.“ Für diese klaren Worte erhielt der Bürgermeister Beifall der Anwesenden.
Auch Monika Bunk, die stellvertretende Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Marburg, ergriff das Wort. „Judenhass ist Menschenhass. Ausländerhass ist Menschenhass. Dem Gedenken sollten Taten folgen. Wir müssen uns klar positionieren und rechten Sprüchen, die schnell in Gewalt gegen Menschen umschlagen kann, entgegentreten“, waren Kernsätze ihrer Ansprache, die ebenfalls mit Zustimmung aufgenommen wurde.
In Neustadt, so Thomas Groll, ließen sich erstmals 1513 Juden nachweisen. Ende des 17. Jahrhunderts entstand eine jüdische Gemeinde, die später die zweitgrößte im Landkreis Marburg gewesen sei. Momberg habe als Filialgemeinde zu Neustadt gehört, gemeinsam nutzte man den zwischen den beiden Orten gelegenen Friedhof.
1885 lebten in Neustadt 160 Juden, das waren 7,5 der Gesamtbevölkerung von 2.130 Einwohnen. 1933 – dem Beginn der NS-Herrschaft waren es noch 89 (4 %). Bis 1901 wurde eine jüdische Volksschule betrieben.
Die jüdischen Familien in Neustadt und Momberg lebten von den Einkommen der Haushaltsvorsteher als Viehhändler, Makler und Kaufleute. In der Marktstraße und ihren Seitenstraßen gab es seit Mitte des 19. Jhd. Mehrere jüdische Läden und Handelsgeschäfte.
Beim „Gang der Erinnerung“ hielt man vor mehreren Anwesen inne und Bürgermeister Thomas Groll trug aus dem Buch „unbekannt verzogen oder weggemacht“ – Schicksale der Juden im alten Landkreis Marburg 1933-1945 die Lebensdaten mehrerer jüdischer Familien vor. So lebte etwa in der „Krummengasse“ (Bogenstraße 1) die Familie des Kaufmannes Sally Levi. Dieser, seine Frau Frieda, Tochter Alma und Schwiegermutter Lina Stern wurden zogen 1939 zunächst von Neustadt nach Köln und wurden 1941 in das Ghetto nach Lodz in Polen deportiert. Die weiteren Umstände ihrer Ermordung sind nicht bekannt.
In der Bogenstraße befand sich von 1773-1887 die erste Synagoge in Neustadt. 1887 bezog die jüdische Gemeinde die neu errichtete Synagoge in der Marburger Straße. Am 8. November wurde diese geschändet, die Inneneinrichtung zerstört und in Brand gesetzt. 1939 wurde das Gebäude abgerissen und das Grundstück veräußert.
Einen Tag später berichtete der Neustädter Bürgermeister dem Landrat, dass „eine aufgebrachte Menge von 250-300 Personen zur Synagoge marschiert seien. Der Stadtpolizist sei gegen die Ausschreitungen hilflos gewesen. … Auf wessen Weisung es zu diesen kam, wisse er nicht. Die Täter konnten nicht ermittelt werden, da sie keine Neustädter waren.“
Der letzte Satz, so der Bürgermeister, sei zweifellos unwahr.
Monika Bunk sprach am Ort der ehemaligen Synagoge das traditionelle jüdische Totengebet „El male rachamim“ (Gott voller Güte), dass 1946 um die Nennung dreier Konzentrationslager erweitert wurde, für die Toten jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger aus Neustadt und Momberg.
Auf dem Rathausplatz endete nach etwa einer Stunde der „Gang der Erinnerung“. „Vor Ort haben wir uns bisher mit der Erinnerung an die NS-Gewaltherrschaft schwergetan. Wie sollten das Gedenken an die Pogromnacht und die Schicksale der Neustädter Juden zu einer Tradition werden lassen. Daraus muss die Mahnung entstehen: Nie wieder darf so etwas in diesem Land passieren“, betonte Groll.
Er verwies abschließend darauf, dass bei der Neugestaltung des Rathausplatzes im kommenden Jahr ein erster Ort des Erinnerns an die jüdischen Mitbürger Neustadts entstehen soll. Vor einer Bank soll ein Pult installiert werden, dass mit wechselnden Einlagen über die jüdische Gemeinde und ihre Mitglieder informieren soll.